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Erst das Urteil, dann der Eklat

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Nach der Urteilsverkündung protestieren Unterstützer der Angeklagten tanzend, singend und Parolen skandierend, bis der Richter den Saal räumen lässt. © Ingo Berghöfer

Das Landgericht Gießen bestätigt das Urteil gegen die Klimaaktivistin »Ella«, senkt aber das Strafmaß. Das sorgt für massiven Protest, der Vorsitzende Richter muss den Saal räumen lassen.

Gießen. Man sollte meinen, nach 32 Dienstjahren könnte dem Vorsitzenden Richter Johannes Nink nichts Menschliches mehr fremd sein. Aber in seinem letzten großen Prozess vor dem Ruhestand gab es für ihn dann doch noch eine Premiere. Nachdem die Baumbesetzerin »Ella« aus dem Dannenröder Wald am Freitag in einem Berufungsverfahren von der dritten kleinen Strafkammer des Gießener Landgerichts wegen zweier tätlicher Angriffe in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einem Jahr und neun Monaten Gefängnis verurteilt worden war, kam es - wie schon im vergangenen Jahr in Alsfeld - zu minutenlangen Tumulten im Zuschauerraum, die erst aufhörten, als Nink den Saal räumen ließ. Die dadurch unterbrochene mündliche Urteilsbegründung wurde danach nicht mehr fortgesetzt. Somit endete der zehnte und letzte Verhandlungstag in Gießen im Eklat.

»Wie blind muss man gewesen sein«

Zuvor hatten die beiden Verteidigerinnen der namentlich unbekannten Baumbesetzerin in ihren Plädoyers noch die Einstellung des Verfahrens und die sofortige Freilassung ihrer Mandantin gefordert. Sie erinnerten an den ihrer Auffassung nach durch die Sichtung der polizeilichen Videoaufzeichnungen widerlegten Vorwurf der Körperverletzung durch Tritte »Ellas« gegen die beiden SEK-Beamten, die sie damals in 15 Metern Höhe überwältigt hatten. Die mehrstündigen Aufnahmen, die das Tatgeschehen hochauflösend aus vier verschiedenen Perspektiven im Bild festhielten, hätten nicht nur bewiesen, dass es vor der Festnahme keinen Körperkontakt zwischen »Ellas« Fuß oder Knie und den Köpfen der Polizisten gegeben habe, sondern auch, dass die beiden Höhenretter entgegen ihrer in Alsfeld getätigten - und in Gießen widerrufenen - Aussagen jederzeit ausreichend gesichert gewesen seien. »Wie blind muss man gewesen sein, über all diese Hinweise hinwegzusehen?«, fragte Verteidigerin Eva Dannenfeldt in Richtung der Richterbank.

»Ella« selbst hatte danach ihr Schlusswort zu einem Rundumschlag gegen alle gesellschaftlichen Fehlentwicklungen genutzt, die ihren Kampf rechtfertigen würden: angefangen bei der Abschaffung der Allmende, des gemeinschaftlich genutzten Ackerlandes im 16. Jahrhundert bis hin zum Bau der A 49 durch einen der letzten, weitgehend naturbelassenen Wälder dieses Landes. Sie verglich sich zudem mit Oppositionellen wie Alexei Nawalny oder Aung San Suu Kyi, die kriminalisiert würden, um ihre politischen Überzeugungen zu kriminalisieren. Auch wandte sie sich gegen den Vorwurf der Staatsanwaltschaft, sie sei ein »Staatsfeind«, der den Rechtsstaat im Wortsinne mit den Füßen getreten habe. »Ich habe nicht die Absicht, mir jemanden zum Feind zu machen. Ich würde mich gerne mit Ihnen zusammensetzen, uns einen Tee einschenken und versuchen, uns gegenseitig zu verstehen.«

Ihren »sehnlichsten Wunsch, diesen Fall heute mit einem Gefühl tiefer Erleichterung zu beschließen« und sich »in den Umarmungen von Freunden wiederzufinden«, erfüllte die Kammer in Gießen freilich nicht, sondern schickte die Aktivistin, die auch anderthalb Jahre nach ihrer Festnahme nicht identifiziert werden konnte, für weitere fünf Monate in ihre Zelle zurück.

Nink begründete das Urteil, wie schon sein Kollege in der ersten Instanz, mit dem Widerstand der Aktivistin gegen Vollstreckungsbeamte und gefährlicher Körperverletzung, blieb aber beim Strafmaß ein halbes Jahr unter dem Alsfelder Urteil und sieben Monate unter der Forderung der Staatsanwaltschaft.

Der Vorsitzende zeigte sich enttäuscht, dass die Aktivistin trotz seiner mehrmaligen Aufforderung nicht kooperiert habe - und dazu auch nicht von Freunden und Mitkämpfern ermuntert worden sei. Die Angeklagte postuliere wie auch Autobahnbesetzer rechtsfreie Räume. Das sei ein »totalitäres Verhalten und ein Angriff auf den Rechtsstaat«. Klimaschutz sei zwar kein Verbrechen, aber nur «im Rahmen der Gesetze«.

Als Johannes Nink ausführte, dass einer der beiden SEK-Beamten durch »den massiven Tritt« körperliche Beschwerden davongetragen habe, eskalierte die Situation im Zuschauerraum und die Urteilsverkündung endete abrupt mit der Saalräumung.

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Wie immer ihr Gesicht hinter einem Aktenordner verbergend, hat »Ella« in ihrer Abschlusserklärung noch einmal ihr Anliegen, den Schutz der Natur vor weiterem Raubbau, betont und die SEK-Beamten sowie Tarek Al-Wazir zum Tee eingeladen. © Berghöfer

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