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»Es ist ein schmerzhaftes Thema«

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Hofft auf einen breiten gesellschaftlichen Zusammenschluss: Ay¸se Güvendiren, hier in der Schreibstube. Foto: Wegst © Wegst

Theatermacherin Ay¸se Güvendiren widmet sich in dieser Spielzeit dem »Jahr der Erinnerungskultur«. Am Samstag wird es mit einem Liederabend und einem Spoken-Word-Programm fortgesetzt.

Gießen. Das erste, was Ayse Güvendiren nach ihrer Ankunft in Gießen auffiel, waren die Shisha-Bars in der Innenstadt. Nicht geduckt in irgendwelchen Hinterhöfen, nicht abgedunkelt hinter Sichtschutzblenden, sondern inmitten der belebten Geschäftsstraßen, gut einsehbar hinter großen Glasfenstern. So zeigte sich der in München aufgewachsenen Theatermacherin, dass es hier einen kulturell offenen Raum gibt, in dem sich die Besucher dieser Bars nicht vor der Mehrheitsgesellschaft verstecken müssen.

Gießen könnte sich angesichts dieser Beobachtung als gutes Pflaster für das Projekt erweisen, mit dem die 1988 in Wien geborene Theatermacherin angetreten ist, den Spielplan auf spezielle Weise zu erweitern. »Jahr der Erinnerungskultur« lautet das Motto, unter dem sie sich auf unterschiedliche Weise mit Ausgrenzung, Rassismus und dem blanken Terror beschäftigt, der hierzulande in den vergangenen 30 Jahren viele migrantische Opfer gekostet hat. »Es ist ein schwieriges, schmerzhaftes Thema«, sagt die türkisch-kurdischstämmige Künstlerin. Aber auch eines, das der dringenden Aufarbeitung bedürfe, »wenn man den Blick für die Lebensrealität der Minderheiten in diesem Land schärfen möchte«.

Kehrtwende im Krankenhaus

Für sie selbst war »das Theater »schon immer ein Teil meines Lebens. ein Ort, an dem ich mich auch in Stressphasen wohlgefühlt habe«, berichtet die 34-Jährige. Dennoch wählte sie nach der Schule zunächst ein Jura-Studium in Augsburg. Doch wenige Tage vor dem Beginn ihres Staatsexamens erkrankte sie schwer. Ein Jahr musste sie im Krankenhaus verbringen: Es war eine Zeit, »in der ich mich neu sortiert und darüber nachgedacht habe, was ich eigentlich wirklich gerne machen würde. Klingt megadramatisch, war es aber nicht. Man ist da eben einfach enorm mit sich selbst beschäftigt.«

So folgte eine biografische 180-Grad-Kehrtwende. Statt in Jura ließ sie sich im Fach Regie an der renommierten Münchner Otto Falckenberg Schule ausbilden - und machte schon bald nach dem Abschluss über ihre Heimatstadt hinaus auf sich aufmerksam. Ihre Diplomarbeit »R-Faktor. Das Unfassbare« erhielt eine Auszeichnung sowie Einladungen zahlreicher Bühnen. Das Fachblatt »Theater heute« erwähnte sie als »beste Newcomerin«.

Über ein Bewerbungsgespräch für ein Projekt in Oberhausen kam sie dann in Kontakt mit der dortigen Dramaturgin Simone Sterr. Die Theater-Chemie zwischen den beiden stimmte und bald darauf folgte ein Anruf der designierten Intendantin: »Ich gehe nach Gießen, willst du mit?« Sie musste nicht lange zögern, »das hat mich wahnsinnig gefreut.«

Durch weitere Gespräche kam der Gedanke auf, sich über die komplette Spielzeit zu binden und dabei das Thema Erinnerung in den Blick zu nehmen. Für Ayse Güvendiren naheliegend, weil sich in der Spielzeit 22/23 die tödlichen Anschläge von Mölln und Solingen jeweils zum 30. Mal jähren. Hinzu kommt der dritte Jahrestag des Attentats von Hanau am morgigen Samstag (siehe Kasten). »Ich hatte das Bedürfnis, dazu etwas zu erarbeiten.«

So entstand zunächst das Projekt einer Schreibklause aus Holz, die im Foyer des Großen Hauses eingerichtet wurde. Die Geschichte dahinter: Nach dem Brandanschlag auf zwei von türkischen Familien bewohnte Häuser in Mölln 1992 schickten viele Menschen Briefe an die Kleinstadt, mit der Bitte, sie an die Hinterbliebenen der fünf Opfer weiterzuleiten. Stattdessen wurden diese Briefe aber archiviert und erst durch einen Zufall 30 Jahre später von einer Journalistin entdeckt, berichtet die Theatermacherin.

Geschichten der Opfer neu schreiben

So widmete sie sich nun der Frage, ob man diese Geschichte neu schreiben kann. Es entstand ein kleiner Ort der Stille, an denen die Theaterbesucher mit Stift und Papier Anteil nehmen und Teil eines kollektiven Erinnerns werden konnten. Das Projekt wird nächste Woche in einer Gießener Schule fortgesetzt und soll dann auch an weitere Orte der Stadt wandern. Am Ende der Spielzeit sollen diese Briefe dann den Opferfamilien ausgehändigt werden, zu denen Ayse Güvendiren vorab den Kontakte hergestellt hat.

Grundsätzlich will sich die Künstlerin thematisch nicht auf die Anschläge beschränken. »Es sind einzelne Glieder einer langen Gewaltkette«, sagt sie, »der ich etwas entgegensetzen will«. Es gehe ihr darum, »im Schönen zu erinnern«. Auch mit dem Liederabend am morgigen Samstag, mit dem zugleich an die Toten von Hanau erinnert wird. Dazu hat Ayse Güvendiren ebenfalls bei Opfern angefragt: Gibt es Lieder, die euch in der Trauerbewältigung gutgetan haben? Die schöne Erinnerungen wecken? Die vielleicht ein Stück Seelenbalsam sind? So kamen zwölf Songs zusammen, vom Gute-Nacht-Lied, das eine Mutter ihrem getöteten Sohn als Kleinkind vorsang, bis zu einem Wunschtitel der Jüdischen Gemeinde in Halle. Türkische, deutsche, englische Titel werden von Ensemblemitgliedern des Schauspiels vorgetragen, die allesamt mit einer Geschichte verbunden sind. »Der Liederabend soll dabei helfen, dass hier ein Lichtlein aufgeht, in der Stadt und im Theater«, erklärt die Organisatorin.

Angst lässt sie nicht los

Aber hat sich denn seit den Anschlägen von Mölln und Solingen vor 30 Jahren in diesem Land nichts zum Besseren gewendet? »Um ehrlich zu sein: nein», lautet die Antwort. »Damals brannten Häuser, in Hanau wurde geschossen.« Sie empfinde die Gegenwart als einen Moment der Zwischenphase, »wohlwissend dass der nächste Anschlag kommen wird. Diese Angst lässt mich nicht los«.

Und so wünscht sich Ayse Güvendiren, dass sich nicht nur die von Ausgrenzung und Rassismus betroffenen Menschen gegenseitig Kraft geben. Sondern, dass sich auch die Menschen der Mehrheitsgesellschaft zusammenschließen und eine Allianz »für ein besseres Morgen bilden. Das funktioniert, glaube ich, nur durch den Zusammenschluss vieler«. Und vielleicht auch ein bisschen durch ihre Gießener Theaterarbeit.

Mit einem Doppelabend wird das Programm des Stadttheaters im Rahmen des »Jahres der Erinnerungskultur« am morgigen Samstag fortgesetzt. Dazu zählt ein Liederabend für Opfer rechter und rassistischer Gewalt um 19.30 Uhr im Großen Haus sowie eine Spoken-Word-Performance, die sich um 21.30 Uhr im Kleinen Haus anschließt.

Beim Liederabend »Vergissmeinnicht« interpretieren sechs Ensemblemitglieder des Theaters Lieder des schmerzhaften und liebevollen Erinnerns, die sich die Hinterbliebenen gewünscht haben. Ayse Güvendiren hat dazu gemeinsam mit Überlebenden und Opfern rassistischer und rechter Gewalt einen Abend konzipiert, der mithilfe von Musik die Perspektiven und Erinnerungen der Opferfamilien wachhalten möchte. Nach der Aufführung kann ein beliebiger Betrag entrichtet werden, den man als angemessen erachtet.

»Sprechen in Deutschland« heißt es dann ab 21.30 Uhr im Kleinen Haus . Das Unsagbare in Worte fassen: Das versuchen die drei Poetry Slammer Fatima Moumouni, Dean Ruddock und Tanasgol Sabbagh mit den Mitteln der Sprache. Moumouni ist Spoken Word Poetin, Moderatorin und Kolumnistin und lebt in Zürich. Mit Laurin Buser wurde sie für ihr gemeinsames Abendprogramm »Gold« 2021 mit dem Salzburger Stier ausgezeichnet. Ruddock schreibt Lyrik, Spoken Word und Prosa, macht Klangkunst, Musik und preisgekrönte Kurzfilme. Sabbagh ist im Iran geboren, in Hessen aufgewachsen und lebt in Berlin. Sie lebt ihre literarische Ader in Performances, Audiostücken, Videoinstallationen und musikalischen Kollaborationen aus. (red)

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