»Es kann sein, dass wir verwandt sind«

Ihre Mütter haben hier die Schulbank gedrückt: Nachfahren von Gießener Juden besuchen vor Stolperstein-Verlegung die Ricarda-Huch-Schule
Gießen . Eigentlich wollte Aliza Cohen-Mushlin niemals einen Fuß auf deutschen Boden setzen - bis die Arbeit an ihrer Dissertation die israelische Kunsthistorikerin 1976 unter anderem nach Frankenthal verschlug. »Ich hatte Angst, nach Deutschland zu kommen«, erinnert sich die 85-Jährige, deren Mutter Sarah Russ (später: Sarah Mushlin) in den 1930er Jahren vor dem Rassenwahn der Nationalsozialisten fliehen konnte. Nun ist sie wieder in Deutschland und besuchte am gestrigen Mittwoch den Ort, an dem ihre Mutter früher die Schulbank gedrückt hat: die heutige Ricarda-Huch-Schule. »Es ist so bewegend, dass ich innerlich zittere.«
Anlass des einwöchigen Besuchs ist die Verlegung von elf Stolpersteinen, unter anderem für die Familie Wohlgeruch/Russ, am heutigen Donnerstag, die die Klasse 7b zusammen mit den Lehrern Paul Lambeck, Alexandra Keller und Christian Schmidt sowie der Stolperstein-Koordinierungsgruppe Gießen vorbereitet hat. Im Gespräch in der Schulbibliothek hatten die Schülerinnen und Schüler zuvor die Möglichkeit, Aliza Cohen-Mushlin und ihrem Cousin Peter Schuller Fragen zu stellen.
Wie die beiden es finden, dass an ihre Vorfahren nun mit Stolpersteinen erinnert wird, wollte eine Schülerin wissen. »Ich finde das Konzept toll«, sagte Peter Schuller, dessen Mutter Henny Wohlgeruch 1923 in Gießen geboren wurde. »In einem Museum könnte nur eine Minderheit die Namen sehen. Auf dem Fußweg dagegen kann man sie nicht meiden, man stolpert jeden Tag über sie.« Er hofft, dass die Namen auf dem Boden Anlass für weitere Recherchen über die Menschen dahinter sind. Die Erinnerung ist auch dringend nötig, findet seine Cousine: »Niemand kennt die Familien mehr, keiner weiß, woher sie gekommen sind.«
Auch sie selbst hatte sich wenig mit ihrer eigenen Familiengeschichte beschäftigt, Kontakt zu ihrem Cousin, der in Großbritannien lebt, bestand nicht. Bis sie vor etwa zwei Jahren eine E-Mail von ihm erhielt: »Es kann sein, dass wir verwandt sind«, schrieb Peter Schuller darin.
Er habe angefangen, seine Familiengeschichte zu recherchieren und sei so in Kontakt mit Hanno Müller gekommen, der seit Jahrzehnten Informationen über die Juden in Oberhessen zusammenträgt. »Ohne Hanno Müller hätten wir uns nie getroffen«, betont Peter Schuller. Gerade weil so viele Verwandte im Holocaust ermordet wurden, sei es »ein großer Schatz, dass wir uns gefunden haben«.
Seine Mutter Henny Wohlgeruch und ihr Vater Josef haben den Holocaust überlebt. Die Schülerinnen und Schüler erfuhren jedoch, dass die Familie bei einem Fluchtversuch 1938 auseinandergerissen wurde: Die Spur von Hennys jüngerer Schwester Sonja und ihrer Mutter Paula - eine geborene Russ - verliert sich in Polen. Vermutlich wurden beide im Warschauer Ghetto ermordet. Henny, die in Gießen die damalige Schillerschule - heute »Ricarda« - besucht hatte, konnte 1939 mit ihrem Vater Josef, einem Uhrmacher, nach Großbritannien fliehen. »Es gab so wenige Länder, die Flüchtlingen aufnehmen wollten«, kritisiert ihr Sohn.
»Traurig, aber nie bitter«
Auch Peter Schullers Vater stammt aus Deutschland und kam über einen Kindertransport nach Großbritannien. »Meine Eltern haben alles getan, um sich zu integrieren, sie haben ihre Sprache und ihre Religion aufgegeben und sogar ihre Namen. Sie wollten englisch werden.« Aus Walter wurde »Wolly«, Henny nannte sich Anne. Beide seien traurig gewesen über den Verlust ihrer deutschen Heimat, »aber nie bitter. Sie haben uns Kinder immer ermutigt, Deutsch zu lernen und nach Deutschland zu reisen«.
Aliza Cohen-Mushlin und Peter Schuller nutzten den Besuch auch dazu, sich von den Schülern durch die Gebäude führen zu lassen und einen Blick auf die Steine zu werfen, die künftig in der Walltorstraße an die Familie Wohlgeruch/Russ erinnern. Eigens für die Gäste wurden auch alte Klassenbücher aus dem Archiv geholt, in denen sie die Einträge über ihre Mütter nachlesen konnten - inklusive Noten.
Mit der Verlegung der Stolpersteine und dem Besuch von Aliza Cohen-Mushlin und Peter Schuller an ihrer Schule, geht für die Klasse 7b die Mitarbeit am deutsch-französischen Projekt »Werkstatt der Erinnerungen« zu Ende. Gefördert durch das deutsch-französische Jugendwerk und finanziell unterstützt von der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Gießen-Wetzlar kamen die Schülerinnen und Schüler aus Gießen mit einer französischen Schulklasse in Kontakt und haben sich sowohl mit Stolpersteinen in Gießen als auch in Frankreich auseinandergesetzt. Auch ein gemeinsamer Besuch des Konzentrationslagers Struthof im Elsass war Teil des Austauschs.
Zusammen mit Christel Buseck, Gründungsmitglied der Koordinierungsgruppe Stolpersteine und ehemalige Lehrerin an der »Ricarda«, habe man danach die zehnte Stolperstein-Verlegung in Gießen in Angriff genommen, erzählte Lehrerin Alexandra Keller. Und ihre frühere Kollegin freute sich, dass die Arbeit der Gruppe »auch in den Schulen ankommt«. Das Gespräch mit den Nachfahren der Gießener Juden war auch für die Mitglieder der Koordinierungsgruppe ein besonderes Ereignis, betonte Ursula Schroeter: »Wir kennen ihre Geschichten in der Regel nur bis zu ihrer Deportation oder Flucht. Hier erfährt man, wie schwer das war.«