»Es kann so nicht weitergehen«

UKGM-Beschäftigte in Gießen und Marburg fordern Entlastung und stellen Land und Arbeitgeber ein Ultimatum
Gießen . Über 800 Millionen Euro soll das Universitätsklinikum Gießen und Marburg (UKGM) in den kommenden zehn Jahren für notwendige Investitionen erhalten. Ein Grund zur Freude? Keineswegs, findet Verdi-Gewerkschaftssekretär Fabian Dzewas-Rehm: »Aus unserer Sicht ist das Problem in keinster Weise gelöst.« Am heutigen Mittwoch wollen die UKGM-Beschäftigten daher eine Absichtserklärung an Politik und Arbeitgeber übergeben. Ihr Ziel: Beschäftigungssicherheit und ein Ende der Überlastung.
Wie belastend der Arbeitsalltag für sie derzeit ist, schilderten einige Mitarbeiter am gestrigen Dienstag bei einer digitalen Pressekonferenz. Früher seien sie und ihre Kollegen bei den Erstdiagnosegesprächen dabei gewesen und hätten im Anschluss mit den Eltern über ihre Sorgen und Ängste sprechen können, erzählte Michaela Newel. Heute sei das angesichts der knappen Besetzung nicht mehr möglich. Die 26-Jährige ist Pflegekraft auf der Kinderkrebsstation in Gießen. »Als ich 2017 angefangen habe, waren wir zu sechst im Frühdienst. Jetzt sind wir meist nur zu dritt.« Nicht nur die wichtige Kommunikation mit den Eltern falle weg, auch für die kleinen Patienten fehle es an Zeit. Das belaste auch die Pflegekräfte: »Wir fühlen uns schlecht und ausgelaugt.«
Pflegende an der Belastungsgrenze
Das sieht auch Nilüfer Cankut so: »Es kann so nicht weitergehen, es muss mehr Personal her.« Cankut ist 48 Jahre alt, arbeitet seit 1995 auf der pneumologischen Station in Marburg und hat zuvor am Uniklinikum auch ihre Ausbildung absolviert. Angesichts der Arbeitsbelastung fragt sie sich, ob sie ihren Beruf noch weitere 19 Jahre bis zur Rente ausüben kann - und ob es überhaupt noch genug Pflegekräfte gibt, wenn sie im Alter auf Unterstützung angewiesen ist. »Ich liebe meinen Beruf, aber wir schaffen es nicht mehr.«
Eine Entlastung per Tarifvertrag gibt es beispielsweise bereits an der Frankfurter Uniklinik. Verdi-Gewerkschaftssekretär Fabian Dzewas-Rehm erläuterte das Prinzip: Vertraglich wird etwa festgehalten, für wie viele Patienten eine Pflegekraft zuständig ist. Wird das Verhältnis wegen Unterbesetzung nicht eingehalten, gibt es einen Belastungsausgleich für die Mitarbeiter - Freizeit oder Geld. So soll der Klinikbetreiber unter Druck gesetzt werden: »Unterbesetzung kann teuer werden.«
Festgehalten werden sollen auch bessere Ausbildungsbedingungen sowie Kündigungsschutz und Ausgliederungsverbote. Ausgegliedert wurde nach der Privatisierung beispielsweise der Patiententransport, in dem Viktor Wildemann tätig ist. Der 34-Jährige ist bei der UKGM Service GmbH beschäftigt und wünscht sich neben einer sicheren Zukunft auch eine Wiedereingliederung. »Die nicht-pflegerischen Bereiche dürfen nicht vergessen werden«, mahnte er. »Wenn es uns nicht geben würde, würden Untersuchungen nicht stattfinden oder Operationen verschoben werden.« Dass die Belastung auch außerhalb der Stationen groß ist, verdeutlichte Volker Peil, Mitarbeiter des Hol- und Bringdienstes am Standort Marburg. Abends gehe er »mit schlechtem Gewissen nach Hause«, weil er angesichts der vielen Arbeit nicht alles in dem Maße erledigen könne, wie er es wolle.
»Kein weiteres Vertrösten«
Wie viele Mitarbeiter die Absichtserklärung unterschrieben haben, soll erst am Mittwoch bekanntgegeben werden, die Mehrheit habe man laut Verdi aber »deutlich erreicht«. Mit der Übergabe der Absichtserklärung beginnt ein 100-tägiges Ultimatum an Land und Klinikkonzern. Wird man sich nicht einig, sollen Streiks folgen. Man erwarte »konkrete Schritte von Politik und Arbeitgeber und kein weiteres Vertrösten«.
Im Detail sollen die Forderungen in den kommenden Wochen noch ausgearbeitet werden. Da die Bedarfe für jeden Arbeitsbereich einzeln festgelegt werden müssen, sei es komplexer als ein Entgelt-Tarifvertrag, sagte Verdi-Gewerkschaftssekretär Julian Drusenbaum. Geplant seien außerdem Veranstaltungen mit den Stadtgesellschaften an beiden Standorten. So wolle man zeigen, welche Auswirkungen es auf die Menschen in der Region hat, wenn die Arbeitsbedingungen am UKGM nicht stimmen.
Der Personalmangel gefährde auch das Wohl der Patienten: »Ein Zusammenhang zwischen Mortalität und Unterbesetzung ist wissenschaftlich belegt«, betonte Dzewas-Rehm. Bei Geburten komme es außerdem häufiger zu invasiven Maßnahmen, wenn eine eins-zu-eins-Betreuung nicht gewährleistet sei.
Viktor Wildemann vom Patiententransport in Gießen gab zu bedenken, dass es nicht reicht, neue Stellen zu schaffen - man müsse auch die Arbeitsbedingungen verbessern, um das vorhandene Personal zu halten. Verdi hofft zudem darauf, dass bessere Arbeitsbedingungen auch dazu führen, dass Pflegekräfte in ihren Beruf zurückkehren oder Teilzeitverträge aufstocken. Mitarbeiter würden nicht nur Teilzeit arbeiten, um Familie und Beruf besser unter einen Hut bringen zu können, sagte Gewerkschaftssekretär Dzewas-Rehm - teilweise seien es auch die schlechten Bedingungen, die ein mehr an Stunden nicht zuließen und dafür sorgten, dass »Fachkräftereserven ungenutzt rumliegen«.