»Es war alles fremd«

Ausreise aus der DDR: JLU-Studierende produzieren Podcasts zu Notaufnahmelager im Meisenbornweg
Gießen . 20 Jahre ist Beatrix Tittmann alt, als sie alles hinter sich lässt: Familie, Freunde, ihre Heimat im Erzgebirge. Das Ziel der jungen Frau ist Westdeutschland. 1987 kommt sie auf dem Bahnhof in Gießen an, von dort geht es weiter in Richtung des Notaufnahmelagers im Meisenbornweg. 35 Jahre später geht sie den gleichen Weg wieder, diesmal begleitet von drei Studierenden der Justus-Liebig-Universität (JLU). Johanna Honig, Annika Wagner und Timm Albrecht haben Beatrix Tittmanns Ausreise aus der DDR und ihre Ankunft im Westen in einem Podcast verarbeitet, das Ergebnis haben sie am gestrigen Montag vorgestellt.
Während Beatrix Tittmann gemeinsam mit den Studierenden vom Bahnhof in den Meisenbornweg läuft, erinnert sie sich an ihre ersten Eindrücke: »Es war alles fremd, trotz der gleichen Sprache.« Die ersten Unterschiede seien ihr bereits aufgefallen, als der Zug die hessisch-thüringische Grenze überschritten hatte: »Die Häuser hier waren saniert und bunt, bei uns waren sie grau und marode.«
Kein Sächsisch an der Uni
Im Notaufnahmelager blieb sie nur wenige Tage, die Zeit dort ist ihr positiv in Erinnerung geblieben: »Wir wurden gut versorgt.« Ihr Ausreiseantrag sei als Familiennachzug genehmigt worden, denn ihr damaliger Freund habe bereits in der Bundesrepublik gelebt, erzählt sie im Gespräch mit den Studierenden.
Nach verschiedenen Zwischenstopps zog es Beatrix Tittmann schließlich wieder nach Gießen, an der JLU studierte sie Medizin - in der DDR sei ihr ein Studium verwehrt worden. Heute lebt sie in Marburg. Wenn sie erzählt, hört man keinen sächsischen Dialekt, weder im Podcast, noch bei ihrem Besuch an der Uni. »Ich habe viel aufgegeben, nicht nur meine Freunde, sondern auch meine Sprache«, sagt sie. Schon in der Einführungswoche für das Studium habe sie bewusst versucht, hochdeutsch zu sprechen. Lediglich wenn sie heute zu Besuch im Erzgebirge sei, verfalle sie wieder ins Sächsische.
Entstanden ist der Podcast im Rahmen des Seminars »Ein Tor zur Demokratie? Geschichte des Notaufnahmelagers Meisenbornweg«, das Hannah Ahlheim, Professorin für Zeitgeschichte, im Wintersemester 2021/22 veranstaltet hat. Bei ihrer Recherche waren die Studierenden überrascht: »In der Bibliothek haben wir fast gar nichts gefunden. Es hat sich angefühlt, als würden wir etwas aufbrechen, was in Vergessenheit geraten ist.« Auch bei einer Umfrage in der Gießener Innenstadt hätte kaum jemand Näheres zu der Notaufnahme gewusst. Dass das Lager und seine Geschichte vielen Menschen in Gießen kaum bekannt ist, hat auch Hannah Ahlheim festgestellt: »Es ist wichtig, dass darüber gesprochen wird.«
Gesprochen wurde auch im Anschluss an die Präsentation der Podcasts - und zwar mit Evelyn Zupke, SED-Opferbeauftragte beim Deutschen Bundestag. Das Gießener Notaufnahmelager sei »ein gesamtdeutscher Erinnerungsort«, stellte die frühere DDR-Bürgerrechtlerin fest.
Es sei »sehr berührend« sich mit den Geschichten zu befassen, die die Studierenden aufgearbeitet haben. Während es heute in Gießen Menschen gibt, denen die Unterkunft kein Begriff ist, sei es in der DDR der Sehnsuchtsort schlechthin gewesen: »Gießen kannte dort jeder.« Über die DDR zu sprechen sei auch 34 Jahre nach dem Mauerfall wichtig. Noch heute würden Menschen unter der zweiten deutschen Diktatur leiden, »sonst gäbe es mein Amt gar nicht«.
Langeweile im Lager
Während Beatrix Tittmanns Geschichte eine echte Ausreise beschreibt, haben sich Tim Groll, Hendrik Holes, Felix Kämmer, Niklas Patzel und Nico Schneider in ihrem Podcast mit dem Alltag im Notaufnahmelager beschäftigt. Ihr fiktiver Protagonist kommt Anfang der 1960er Jahre als Zwölfjähriger mit seinen Eltern und der kleinen Schwester nach Gießen und leidet im Lager ziemlich unter Langeweile.
Für Abwechslung sorgen unter anderem eine Filmvorführung und der Besuch des Nikolauses. Für den 24. Dezember erhalten die Neuankömmlinge zudem eine Einladung einer Familie aus Heuchelheim, um mit ihnen gemeinsam Weihnachten zu feiern.
Die überwiegend positive Darstellung des Lagerlebens haben die Studierenden anhand von mehrstündigen Recherchen im Stadtarchiv erarbeitet. In den dort vorhandenen Unterlagen habe es zahlreiche Dankesbriefe gegeben, die die Menschen nach ihrem Aufenthalt geschrieben hatten. Auch die beschriebenen Veranstaltungen habe es wirklich gegeben - allerdings nicht so regelmäßig, wie es sich manch ein Bewohner vermutlich gewünscht hätte. Für den Podcast wurde ein Zeitraum von etwa fünf Jahren gerafft.