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»Es war unerträglich«

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Von: Eva Pfeiffer

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Als mit den Corona-Lockdowns die Ablenkung fehlte, verschlimmerte sich Franziska Neubers Depression. Symbolfoto: dpa © Red

Zwischen Selbstzweifeln und Burnout: Franziska Neuber aus Gießen studiert mit Depressionen

Gießen . Dezember 2020. Zum zweiten Mal seit Beginn der Corona-Pandemie geht das Land in einen harten Lockdown: Der Einzelhandel muss schließen, Gastronomen können ihr Essen nur liefern, private Zusammenkünfte werden auf zwei Haushalte mit maximal fünf Personen beschränkt. Franziska Neuber sitzt zu Hause am Schreibtisch. Erst wenige Wochen zuvor hat sie ihr Studium an der Technischen Hochschule Mittelhessen (THM) begonnen. Doch während in normalen Zeiten Erstsemester gemeinsam die Stadt erkunden, in der Bibliothek Referate vorbereiten oder in die Mensa gehen, findet das Studium nun fast ausschließlich digital statt. Über zwölf Stunden pro Tag arbeitet die junge Frau: Onlinevorlesungen, Texte lesen, Klausurvorbereitungen. Alles alleine, alles zu Hause. Gut geht es ihr dabei nicht: »Es war unerträglich. Ich fühlte mich alleingelassen und war überfordert.«

Franziska Neuber hat Depressionen. Die ersten Symptome, erzählt sie, machten sich bereits im Teenager-Alter bemerkbar. Mit ihren Mitschülern kommt sie nicht gut zurecht, teils verbringt sie den ganzen Tag im Bett, starrt an die Wand. »Über die Jahre wurden die depressiven Episoden schlimmer«, aber sie verschwinden auch wieder. Sie macht Abitur, ist jedes Wochenende auf Achse: Festival, Kirmes, Club oder Kneipe. »Ich brauchte das. Es war eine Ablenkung von meinen Depressionen.«

Dann kommt Corona. Mit den Kontaktbeschränkungen fallen Festivals, Clubs und Co. weg. »Als nichts mehr ging, ging es mir rapide schlechter. Meine Probleme waren noch da, aber die Ablenkung nicht mehr.« Damals habe sie regelrecht Wut auf die Coronamaßnahmen empfunden, erinnert sich die 22-Jährige. Heute ist sie froh: »Ohne Corona wäre ich nie in Therapie gegangen.«

Oktober 2021. Das dritte Semester beginnt für Franziska Neuber, noch immer findet das Studium größtenteils digital statt. Im Modulplan hinkt sie hinterher. Schon im ersten Semester hat sie sich von zwei Klausuren abgemeldet. Denn obwohl sie den halben Tag am Schreibtisch sitzt, verzeichnet sie keinen Lernfortschritt, Selbstzweifel plagen sie. Es ist paradox: Die Depressionen »hindern mich daran, eine Leistung zu erbringen und dass ich die Leistung nicht erbringen kann, deprimiert mich dann noch mehr. Quasi Depressionen hoch zwei«.

Private Umbrüche haben die Situation phasenweise verschlimmert, sie hat Suizidgedanken. Doch im neuen Semester will sie nachholen, was sie zuvor schieben musste. Der Druck ist groß, zu groß. »Ich stand 24 Stunden lang, sieben Tage die Woche unter Strom.« Zusätzlich zu ihrem Studium arbeitet sie. Bewusst Pausen einzulegen, fällt ihr schwer. Nach drei Wochen geht nichts mehr: Burnout.

Franziska Neuber wendet sich an ihre Hausärztin, die sie an eine Therapeutin überweist. Zwei Monate verbringt sie anschließend in einer psychosomatischen Klinik. Ihr Studium pausiert sie derweil. Neben einer Depression werden bei ihr auch eine Angststörung, eine Impulskontrollstörung sowie nichtorganische Insomnie (Schlaflosigkeit) diagnostiziert.

Die freie Zeit nutzt sie auch zum Schreiben. Bei »Soul lala«, einem Inklusionsprojekt für Jugendliche und junge Erwachsene rund um seelische Gesundheit, nimmt sie an einem Schreibwettbewerb teil, ihr Text wird online veröffentlicht. Für die Studentin ist das ein Motivationsschub, gleichzeitig merkt sie, dass sie nicht alleine ist mit ihren Problemen. Während des Klinikaufenthalts stellt sie fest, »wie wichtig es ist, sich mit anderen auszutauschen«.

Zurück an der THM spricht Franziska Neuber auch mit den Kommilitonen über ihre Depressionen. Bei Instagram schreibt sie als @mentalmascha über ihr »Leben mit der kranken Psyche«. Die 22-Jährige will ihre Diagnose bewusst nicht verheimlichen, sondern entstigmatisieren. Sie ist überzeugt, »dass man mir viel früher hätte helfen können«. Doch Stigmatisierung psychischer Erkrankungen und Unverständnis »sorgten dafür, dass ich meine Not lieber unterdrückte, anstatt mir Hilfe zu suchen«.

Über Depressionen werde zu wenig gesprochen, auch in der Schule. Da habe sie zwar einiges über Krebs, Alzheimer oder die Erbkrankheit Chorea Huntington erfahren, nicht jedoch über psychische Erkrankungen. »Es fängt schon in der Grundschule an: Da wird man gefragt, was man in den Sommerferien gemacht hat, aber nicht, wie man sich fühlt.«

Mehr Aufklärung brauche es auch mit Blick auf die Bedürfnisse betroffener Studierender: Zwar sei sie bei ihrem Wiedereinstieg ins Studium gut vom Zentrum für chronisch kranke und behinderte Studierende der THM unterstützt worden. Für psychische Erkrankungen gebe es aber »keine vernünftigen Nachteilsausgleiche«. Aufgrund ihrer Angststörung und Konzentrationsschwierigkeiten könne sie etwa die Zeit bei einer 90-minütigen Klausur nicht so effektiv nutzen, wie ihre Kommilitonen - statt einer Zeitverlängerung habe sie die Klausur aber lediglich in einem separaten Raum schreiben können. »Ein Studium ist so schon nicht geschenkt. Aber ein Studium mit Depressionen ist eine knallharte Herausforderung, die mir nahezu alles abverlangt.« Foto: Pfeiffer

An den Hochschulen gibt es mehrere Anlaufstellen für Studierende mit psychischen Problemen, auch während der vorlesungsfreien Zeit. An der Justus-Liebig-Universität (JLU) können sie sich beispielsweise an die Psychologische Beratungsstelle wenden. Die kostenfreie Beratung wird nicht über die Krankenkasse abgerechnet. Alle Mitarbeitenden unterliegen selbstverständlich der Schweigepflicht. Wie viele Gespräche geführt werden, ist variabel und wird an den individuellen Bedarf angepasst. Ein Nachteilsausgleich ist laut Pressestelle immer auf den konkreten Einzelfall bezogen - möglich sind etwa Prüfungszeitverlängerungen oder die Nutzung bestimmter Hilfsmittel. An der Technischen Hochschule Mittelhessen bietet der Psychologe Jeffrey Koller eine kostenfreie und vertrauliche Beratung an, sowohl online als auch in Präsenz. Bis zu fünf Termine bei ihm können etwa die Wartezeit auf einen Therapieplatz verkürzen. »Das ist als niedrigschwelliges Angebot gedacht und ersetzt keinesfalls eine Therapie«, sagt er. In der Regel müssten Hilfesuchende nicht lange auf einen Termin bei ihm warten. Einen Nachteilsausgleich für Studierende mit psychischer Erkrankung gibt es, dieser ist je nach Art und Ausprägung unterschiedlich und besteht laut Koller etwa in Form von Fristverlängerungen für Abgabetermine oder zusätzlicher Zeit für Klausuren. Auch der Allgemeine Studierendenausschuss der JLU bietet eine psychologische Beratung an. Wegen der Corona-Pandemie finden die offenen Sprechstunden montags und mittwochs derzeit telefonisch statt. (ebp)

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Franziska Neuber © Eva Pfeiffer

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