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»Etwas Eigenes und Wertvolles bekommen«

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Mit einem Bild bedankt sich ein Kind bei der Tafel Gießen für die Erstausstattung zur Einschulung. Foto: Tafel Gießen © Tafel Gießen

Für viele Familien in Gießen ist der Schulbesuch ein Geldproblem. Die Tafel unterstützt mit eigenen Projekten.

Gießen. Dass über 25 Prozent Kinderarmut weit mehr als bloß Statistik sind, weiß Anna Conrad nur zu gut. Sie kennt die Folgen dieser Not. Gerade auch im Schulalltag. »Es gibt viele besondere Tage im Leben. Aber ich glaube, die Einschulung ist der erste, der hängen bleibt. Vor einigen Jahren habe ich davon gehört, dass ein Kind ohne Ranzen und mit einer Einkaufstüte eingeschult wurde. Das kann nicht angehen, dass in einem Land wie Deutschland jemand ohne Schulranzen gleich am ersten Tag die Zukunft verbaut bekommt. Das Kind hatte dadurch einen Stempel. In der Klasse, bei den Lehrern. Das Mädchen hat überhaupt keine Chance gehabt«, berichtet die Leiterin der Tafel Gießen. An der Situation der von Armut betroffenen Familien »können wir als Kommune nichts ändern. Aber wir können die konkrete Förderung des Kindes veranlassen und ihm Bildungschancen eröffnen. An diesem Punkt setzen wir an«, erläutert Schuldezernentin Astrid Eibelshäuser von der SPD. Lutz Perkitny sieht die Schwierigkeiten bei Bedarfsgemeinschaften und den sogenannten Aufstockern. »Die Aufstocker, die mehrere Jobs haben, erleben häufig, dass sie nicht genug verdienen und ihren Kindern nichts bieten können. Die Verzweifelung und der Frust sind deshalb groß«, erklärt der Nordstadtmanager. Wie sich Kinder, die in Armut aufwachsen, später entwickelten, hänge häufig davon ab, ob sich eine externe Vertrauensperson ihrer annehme. Denn die Familien seien in ihrer ohnehin schwierigen Situation häufig selbst nicht in der Lage dazu.

Besondere Herausforderungen

In Gießen leben 26, 4 Prozent der Kinder in Bedarfsgemeinschaften. Das ist die nüchterne Zahl der Sozialberichterstattung der Stadt für das Jahr 2020. »Der Anteil der Kinder und Jugendlichen in Bedarfsgemeinschaften kann als ein (kleinräumig verfügbarer) Indikator für Kinder- und Jugendarmut betrachtet werden«, heißt es in dem Bericht. Beim Stadtteilvergleich fällt auf, dass mit 44, 2 Prozent in der Weststadt die meisten Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren in Bedarfsgemeinschaften leben. In der Nordstadt sind es 37,3 Prozent, in der Innenstadt 28, 6 Prozent. Die Zahl für die gesamte Stadt hat sich laut Statistik seit 2017 nur minimal verändert.

Conrad kennt die Hintergründe dieser Zahlen aus ihrer täglichen Arbeit. Ereignisse wie die Einschulung stellten diese Familien vor besondere Herausforderungen. »Ich weiß, was eine Einschulung kostet. Gut 400 Euro sind realistisch. Ein anständiger Schulranzen fängt bei 200 Euro an. Da geht es um Zukunft, Körper und den Rücken. Dann 100 Euro für die Liste von der Schule, die Schultüte mit 20 bis 50 Euro und etwas zum Anziehen«, listet die Tafel-Chefin auf. Um die Familien zu entlasten, hat sie bereits im vergangenen Jahr ein Projekt auf den Weg gebracht. Rund 400 Kinder haben eine Erstausstattung unter anderem mit Buntstiften, Lineal und Schulheften bekommen. Es soll in diesem Jahr fortgesetzt werden.

»Wir sind sehr dankbar für die Unterstützung. Wir hätten uns keine neuen Sachen leisten können.« Die Hilfe habe vor allem dafür gesorgt, dass die Kinder »normale« Kinder mit neuer Ausstattung gewesen seien, berichtet eine Familie mit zwei Kindern, die anonym bleiben möchte. Der Vater arbeitet als Reinigungskraft und stockt auf, da nebenbei eine Umschulung läuft. Ganz Ähnliches erzählt eine alleinerziehende Mutter von vier Kindern, die ein Ausbildungsgehalt bezieht. Durch die Aktion der Tafel habe man das Gefühl gehabt, nicht alleine zu sein. Die Kinder seien wieder motiviert gewesen, zum »Stift zu greifen, statt vor dem Computer zu sitzen«. Eine Familie, die vom Lohn des Vaters, Kinderzuschlag und Wohngeld lebt, ist ebenfalls »sehr dankbar für die Unterstützung. Sie war eine sehr große Hilfe.«

Die Tafel habe sich in den letzten Jahren sehr stark auf die Rettung und Verteilung von Lebensmitteln konzentriert. »Wir haben bei unserer Arbeit aber ganz schnell festgestellt, dass es eben auch noch andere Bedarfe bei Kindern gibt, denen wir als Tafel nachkommen wollen. In einem ersten Schritt ist daraus unser Herzenswunschprojekt entstanden. Wir versuchen, Kindern der Tafel ihren Weihnachtswunsch zu erfüllen. Für mich ist es das Schlimmste und jedes Jahr aufs Neue wieder festzustellen, dass 80 Prozent der Wünsche elementare Dinge sind. Natürlich finden sich auch Handys und Playstations unter den Wünschen. Aber das ist nur ein kleiner Bruchteil. Alle anderen Wünsche sind Winterjacken, Winterschuhe oder Futter für den Hamster, damit er nicht stirbt. Oder ein Füller für Linkshänder«, erläutert Conrad. Sie habe sich immer gefragt, wie die Situation dieser Kinder wäre, wenn sich die Tafel nicht kümmern würde? »Würde das Kind dann noch in Sommerschuhen rumlaufen? Teilweise wurde mir bestätigt, dass die Kinder in dünnen Turnschuhen mit den Eltern hier bei uns anstanden. Ich habe mich mit Familien unterhalten und gefragt, ob wir ihnen mit der Aktion etwas überstülpen. Sie haben geantwortet, dass ihnen das im Gegenteil hilft.«

Aus dem Projekt zu den Weihnachtswünschen sei die Idee zu »Ein besonderer Tag« und damit zur Einschulung entstanden. »Ich habe Glück gehabt, dass ich Kontakt zu einem Hersteller von Schulranzen herstellen konnte. Er hat uns in den letzten beiden Jahren einen großen Teil der Schulranzen gesponsert. Das ist B-Ware von Vorjahresmodellen. Es gibt ein Sortiment für Jungs, eines für Mädchen. Aber das ist den Kindern egal«, sagt die Tafel-Chefin. Für sie sei es etwas ganz Besonderes, mit einem Schulranzen etwas Eigenes und Wertvolles zu bekommen.

Buntstifte, Lineal und Spitzer

Durch eine Spende sei es gelungen, das Ranzen-Projekt um die Erstausstattungspakete zu ergänzen. »Die Leute bekommen auch vom Amt einen Zuschuss. Das sind 50 Euro für jedes Schuljahr. Und für die Einschulung sind es 150 Euro. Das deckt aber bei Weitem nicht die Kosten.«, betont Conrad. Für die Grundschule habe sie mit ihren Leuten Buntstifte, Bleistifte, Lineal, Spitzer, Radiergummi, Kleber und Schulhefte gepackt. Für die weiterführende Schule waren es unter anderem Zirkel oder Collegeblöcke. Neben diesem Projekt, das fortgesetzt werden soll, plant die Bereichsleiterin »einen Schwimmkurs für Tafel-Kinder. Schon vor Corona haben wir festgestellt, dass immer weniger Menschen schwimmen lernen. Und für Menschen mit geringem Einkommen ist es besonders schwer, einen Kurs für ihre Kinder zu finanzieren«. Ziel des neuen Projektes sei es, über den Unterricht hinaus die Grundausstattung mit Handtuch, Badebekleidung, Schwimmbrille und Turnbeutel zu finanzieren. Zudem wolle man es einem Teil der Kinder ermöglichen, an Sport-Sommercamps teilzunehmen.

»Wer die kommunale Kinderarmut in den Blick nimmt, muss viele Bausteine in einem Konzept vereinen«, analysiert Eibelshäuser. Materiell spiele etwa das Bildungs- und Teilhabepaket (BuT) für von Armut betroffene Kinder eine wichtige Rolle. »Zum Beispiel wird das Mittagessen zu 100 Prozent daraus gefördert«, hebt die Stadträtin hervor. Sehr viele Anträge zu dem Paket gingen mittlerweile bei »Gießen@Schule« ein. Dort fänden Eltern auch Hilfe bei der Antragsstellung. Insgesamt sei die Stadt immer im Gespräch mit den Schulen, auch zu Themen wie Ausstattung. »Grundsätzlich gilt, dass gute Bildung durch gute Schulen und Ausstattung zustande kommt. Das ist ein guter Hebel, um Kinderarmut zu begegnen«, so die Dezernentin.

Zugang zum kulturellen Angebot

Als wichtiges Element nennt die Sozialdemokratin Ganztagsschulen als in Gießen gebührenfreie Lernorte. Ebenso wie die Schulsozialarbeit, die vielfach seit Jahren selbstverständlich sei, Ein weiterer Baustein sei der Zugang zu kulturellen Angeboten wie Kunsthalle und Stadttheater, der für alle Kinder möglich sei.

Die Sozialisation außerhalb der Familie mit einer Vertrauensperson biete Kindern und Jugendlichen unter anderem Rhythmus und Tagesstruktur. Das könne auch der Sport im Team leisten, meint Perkitny: »Eine solche Mannschaft schafft ebenfalls die so wichtige Struktur. Zudem kümmern sich die Mitglieder.« Ihm lägen zwar keine Zahlen vor, erklärt der Nordstadtmanager. »Aber ich gehe schon davon aus, dass die Kinderarmut zugenommen hat.« Ein wesentlicher Faktor sei die Inflation.

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Die Tafel stellt Pakete mit einer Erstausstattung zur Verfügung. Foto: Anna Conrad © Anna Conrad

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