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»Extrem starker Zuzug« ab August

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Von: Ingo Berghöfer

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2022 war auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Erstaufnahmeeinrichtung ein herausforderndes und belastendes Jahr. Foto: Friese © Friese

Die Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Hessen in Gießen registrierte 2022 die höchsten Flüchtlingszahlen seit 2016. Ukrainer kommen zurzeit aber nur wenige - eine Jahresbilanz.

Gießen . Mit mehr als 17 000 Menschen wurden im Jahr 2022 in der Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Hessen (EAEH) so viele Flüchtlinge registriert wie seit 2016 nicht mehr. Und in den »Top 3« der Herkunftsländer ist die Ukraine nicht einmal vertreten, wie der Leiter Manfred Becker im Gespräch mit dem Anzeiger bilanzierte. Ein Jahr nach dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise von 2015 waren rund 24 615 Menschen, die in Deutschland um Asyl suchten, in den ehemaligen Kasernengebäuden an der Rödgener Straße erfasst worden. Seitdem sind die Zahlen bis 2020 kontinuierlich gesunken: von 12 000 (2017) über 10 000 (2018), 9000 (2019) auf 6000 (2020). Seit einem Jahr aber steigen die Zahlen wieder. Dass 2021 die Zahl der Schutzsuchenden »nur« auf 11 000 anwuchs, sei vor allem auf die Pandemie-bedingten Grenzschließungen in Europa zurückzuführen, so Becker.

Überraschend ist dabei, dass die mit Abstand größten Gruppen von Asylsuchenden nach wie vor aus Afghanistan, der Türkei und Syrien stammen. Von den (Stand Mitte Dezember) an allen Standorten der EAEH untergebrachten 4740 Menschen (davon 2242 am Standort Gießen) kamen 672 aus der Ukraine.

Keine Glaskugel

Nachdem kurz nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine bis zu 500 Ukrainer pro Tag in der EAEH registriert wurden, seien zuletzt nur noch zwischen zehn und 20 Personen täglich eingetroffen. Seitdem Putins Militär dazu übergangen ist, die zivile Infrastruktur in der Ukraine zu zerstören, sei diese Zahl wieder auf etwa 50 pro Tag gestiegen.

Rechnet Manfred Becker mit einem Anstieg in diesem Winter? Er schüttelt den Kopf: »Da müsste ich in eine Glaskugel schauen.« Fakt sei aber, dass immer noch sehr viele Frauen und Kinder, aber nur wenige Männer in Gießen registriert würden. Auch wenn man jüngst einen leichten Anstieg festgestellt habe, sei dies noch kein Indiz dafür, dass in diesem Winter eine ähnliche Fluchtwelle aus der Ukraine wie im Frühjahr zu erwarten sei. »Ich bewundere das Durchhaltevermögen des ukrainischen Volkes«, betont Becker. Und fügt hinzu: »Wir hatten schon mit merklich mehr Flüchtlingen gerechnet, als das Bombardement begann. Aber viele bleiben trotz allem zu Hause oder sind zunächst in ländliche Regionen im Westen der Ukraine gezogen, um dort den Krieg auszusitzen.«

Platznot

Die 15 Leichtbauhallen, die die EAEH Anfang 2022 aufstellen ließ, sind alle noch da. Dazu kommen noch zwei weitere Notunterkünfte in Büdingen, eine in Friedberg und drei in Neustadt. Von den 2864 verfügbaren Plätzen am Standort Gießen waren Mitte Dezember 2242 belegt und 622 frei. Die Gesamtkapazität beträgt zwischen 8000 und 9000 Plätzen. Die Auslastung lag im Dezember zwischen 60 und 70 Prozent. Das dürfte sich zwischen Weihnachten und Neujahr stark geändert haben, weil dann keine oder nur wenige Bewohner in die Kommunen verteilt worden sind. Um aber über einen Zeitraum von zehn Tagen ohne Abgänge zu kommen, benötigt man in Gießen 2000 freie Plätze. Das sei zwar ein Worst-Case-Szenario, räumt Becker ein, aber im Dezember habe es bereits einen Tag mit weit über 200 Neuzugängen gegeben. »Was einmal passiert ist, kann wieder passieren, deshalb müssen wir für diese Zeitspanne mit 2000 Plätzen kalkulieren.

Aktuell habe man jede Woche Zugänge zwischen 900 und 1000 Personen in Gießen. Nach wie vor habe Hessen einen sehr großen Überhang zu dem im »Königsteiner Schlüssel« vereinbarten Aufnahmekontingent, daher könne man pro Woche bis zu 500 Personen in andere Bundesländer weiterleiten. »Nur das und nicht die Zuweisung in die Kommunen hat dazu geführt, dass wir bei der Belegung eine Entlastung bekommen haben.«

Hessen liege im Moment von allen Bundesländern am weitesten über dem Aufnahmesoll. »Wir gehen davon aus, dass es viele Flüchtlinge gibt, die Gießen direkt ansteuern«, sagt der EAEH-Leiter. Warum sie das tun, darüber könne man nur spekulieren. »Wir hatten zuletzt deutliche Zugänge aus Afghanistan und der Türkei, die über den Zugängen in anderen Bundesländer liegen.« Im Sommer 2021 seien viele Afghanen direkt über den Flughafen Frankfurt aus Griechenland nach Deutschland ausgereist, die dort schon anerkannt worden waren, hier aber einen neuen Asylantrag stellten. Der wird in der Regel zwar abgelehnt. Die Migranten bleiben aber dennoch hier. »Deutsche Gerichte sagen, dass eine Rückführung derzeit nicht möglich ist, weil in Griechenland keine menschenwürdige Unterkunft garantiert wird«, erklärt Becker. Diese sogenannte Sekundärmigration sei mittlerweile sehr stark zurückgegangen, weil die Lager auf den griechischen Inseln längst nicht mehr so voll seien wie noch vor einem Jahr.

»Keine Solidarität«

Können sich Flüchtlinge de facto also das Land aussuchen, in dem sie leben wollen? »Es gibt zwischen den europäischen Ländern keine Aufnahme-Solidarität«, bedauert Becker, selbst die Überstellungen in das Einreiseland gemäß den Dublin-Regeln gestalteten sich manchmal schwierig.

Während die europäischen Länder bei der Verteilung der Flüchtlinge in sieben Jahren nicht weitergekommen sind, hat sich deren Lage in einem anderen Bereich seit 2015 verschlechtert. »Die Kapazitäten der Landkreise sind im Prinzip erschöpft«, unterstreicht Manfred Becker. »Die fangen inzwischen auch an, Notunterkünfte zu errichten.« Erst jüngst habe sich eine kommunale Delegation über die Leichtbauhallen in der Erstaufnahme informiert.

»Wir sind die Durchlaufstation«, sagt der EAEH-Leiter, «die Kommunen haben die Flüchtlinge aber auf Dauer, und dort sind die Kapazitäten wirklich stark erschöpft, sodass man dort im Moment auf viele Behelfsmöglichkeiten zurückgreifen muss«. Das Problem gehe aber noch tiefer. Er kenne viele Kommunen, in denen noch immer viele Flüchtlinge in Gemeinschaftsunterkünften lebten, die 2015 oder 2016 gekommen seien, mittlerweile sogar einen Beruf, aber keine Chance auf dem Wohnungsmarkt oder auf eine eigene Wohnung hätten. Dafür seien die Mieten in der Regel viel zu hoch. Durch die jetzige Preissteigerung werde es noch schwieriger für diese Menschen, auf eigenen Füßen zu stehen. »Die leben deshalb immer noch in den Gemeinschaftsunterkünften. Und diese Plätze fehlen den Kommunen.«

Dass es trotzdem gelungen sei, viele ukrainische Flüchtlinge unterzubringen, habe auch an der höheren Aufnahmebereitschaft der Vermieter gelegen. Für eine Familie aus der Ukraine werde nämlich eher eine Dachgeschosswohnung freigeräumt als für eine aus Eritrea. Dies habe den Kommunen noch lange die Möglichkeit gegeben, angemessene Wohnunterkünfte zur Verfügung zu stellen, »aber auch dieses Potenzial scheint erschöpft zu sein«. Und wie soll es weitergehen, wenn die Flüchtlingszahlen weiterhin hoch bleiben? »Letzten Endes ist das eine Frage, die die Politik beantworten muss«, sagt Becker.

Corona ist abgehakt

Themenwechsel: Hat sich die Flucht junger Russen vor der Mobilmachung auch schon in der EAEH bemerkbar gemacht? Becker verneint: »Wir hatten Anfang Dezember lediglich 110 Bewohner aus Russland. Das ist marginal. Auch wenn deren Zahl zuletzt leicht gestiegen ist.« Viele Kriegsgegner würden nach Kasachstan ausweichen, der Weg in die EU sei dagegen für Russen sehr viel umständlicher.

Auch die im Vorfeld befürchteten Konflikte zwischen Russen und Ukrainern seien ausgeblieben. »Schließlich sind ja beide Gruppen aus demselben Grund nach Deutschland gekommen: wegen Putin«.

Unterm Strich sei 2022 ein Jahr gewesen, dass für seine Mitarbeiter herausfordernd und belastend war, resümiert der Einrichtungsleiter. Am Jahresbeginn habe Omikron die Abläufe geprägt. »Wir hatten zwar einen größeren Corona-Einbruch. Der hat sich aber in der Höchstzahl auf 300 Infizierte beschränkt und zu keinen schweren Verläufen geführt. Das war beherrschbar.« Man habe im Schnitt am Tag zwischen zehn und 20 Fällen gehabt - bei einer Belegung von teilweise über 7000. Und das, obwohl überraschenderweise die Impfbereitschaft stark nachgelassen habe. »Wir gehen davon aus, dass die Neuankömmlinge bereits überwiegend über den Genesenenstatus verfügen.« Im Moment spiele Corona ohnehin keine Rolle mehr.

Weniger Gewalt

Ruhiger geworden ist es laut Becker auch um das große Aufregerthema von 2021, als die Polizei mehrmals täglich in der EAEH erscheinen musste. »Die Konflikte sind spürbar zurückgegangen, sowohl innerhalb der Einrichtung als auch im Umfeld.« Das liege zum einen an den vielen Präventivmaßnahmen, die man ergriffen habe, zum anderen hielten sich gegenwärtig weniger Bewohner aus bestimmten Konfliktregionen in der EAEH auf.

Einen großen Anteil an diesen Konflikten hätten aber auch die Quarantänemaßnahmen während der Corona-Pandemie gehabt. »Wir mussten damals Neuankömmlinge in eine 14-tägige Einreisequarantäne stecken, manchmal auch länger. Dass das auf sehr engem Raum in Zeiten hoher Zugänge zu Konflikten führte, war dann fast zwangsläufig.«

Der Anteil von Flüchtlingen aus den Maghreb-Staaten, die für einen Großteil der damaligen Konflikte verantwortlich gemacht wurden, habe sich inzwischen auf 157 halbiert. Darunter gebe es zwar immer noch einzelne problematische Fälle, aber durch die gute Zusammenarbeit mit der Polizei bekomme man das geregelt. Diese Flüchtlinge seien zudem auf verschiedene Standorte verteilt worden, um eine Gruppenbildung zu vermeiden, in der sich einzelne Täter »gegenseitig hochschaukeln«.

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