»Feiern heißt auch Kraft schöpfen«

Das kommende Stadtfest in Gießen knüpft an die Tradition vor Corona an. Der Oberbürgermeister erwartet ein besonderes Fest.
Gießen. Zwei Mal hat Corona dem Stadtfest einen Strich durch die Rechnung gemacht. 2022 aber nicht. Vom 19. bis 21. August öffnet der Stadt größte Freiluftparty nach der Pandemiepause wieder ihre Pforten. Bühnen, Drachenbootcup, Run’n’Roll for Help: Viel Bekanntes steht auf dem Programm. Aber »wir haben auch eine schöne Anzahl an Neuigkeiten«, sagt Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher. Nach der langen Corona-Pause habe das Fest diesmal eine besondere Bedeutung. »Es heißt, ein Stück weit wieder an Normalität anzuknüpfen. Und ich bin davon überzeugt, dass auch Krisen einen Moment von Normalität brauchen, sonst kann man sie nicht bestehen«, erklärt der Rathauschef.
In den letzten beiden Jahren ist das Stadtfest wegen Corona ausgefallen. Hat die aktuelle Auflage deshalb besondere Bedeutung?
Ja. Das Stadtfest ist ein Fest mit einer ganz großen Tradition und ist ein sehr markantes Datum im Jahreskalender unserer Stadt. Für viele Menschen ist das ein fest eingeplanter Termin. Deswegen wurde das Fest auch vermisst. Dass das Stadtfest jetzt wieder stattfindet, heißt, eine wichtige Tradition in unserer Stadt wieder aufzunehmen. Es heißt, ein Stück weit wieder an Normalität anzuknüpfen. Und ich bin davon überzeugt, dass auch Krisen einen Moment von Normalität brauchen, sonst kann man sie nicht bestehen.
Wie trägt ein Fest zur Bewältigung bei?
Die aktuellen Krisen fordern und belasten uns sehr stark. Ein Fest kann in so einer Situation auch ein Signal sein, dass das Leben weitergeht und Verlässlichkeit und Sicherheit in den Alltag zurückkommen. Das ist die eine Seite.
Und die zweite?
Jeder weiß: Wo man gut feiern und Freude erleben kann, da lässt es sich gut leben. Auch wenn man nicht in der Stadt wohnt, ist die Botschaft des Festes, dass sich ein Besuch in Gießen lohnt. Das Stadtfest hat eine große Ausstrahlung. Gerade aus der Pandemie heraus ist es ein wichtiges Signal, dass unsere Innenstadt ein Ort der Begegnung, des Treffens ist. Das ist wichtig für Handel und Gastronomie. Und es lenkt den Blick wieder auf unsere vielfältigen kulturellen Angebote.
Kann man aktuell eigentlich richtig feiern?
Ganz sicher ist, dass es ein bisschen anders ist, Feste in solchen Zeiten zu feiern. Die Sorgen und Ängste, die die Menschen umtreiben, lassen sich nicht einfach vergessen. Und dennoch bin ich davon überzeugt, dass es wichtig ist, gerade in solchen Zeiten auch etwas wie Freude zu haben. Zuversicht in die Zukunft zu schöpfen, Mut für Veränderungen, Zutrauen - all das kann ein solches Fest motivieren. Das Gefühl, nicht allein zu sein, ist in diesen Zeiten besonders wichtig. Und das vermittelt ein solches Fest. Feiern heißt auch Kraft schöpfen.
Ist das Fest den aktuellen Bedingungen angepasst?
Angepasst haben wir das Fest nicht. Aber wir reagieren auf die Zeit. Wir versuchen den Themen, die für alle präsent sind, konstruktiv einen Platz zu geben. Wir werden das Fest mit einer Schweigeminute eröffnen für die Opfer des Krieges, den Russland in der Ukraine führt. Das ist ein Moment, sich der Zeit bewusst zu werden, in der wir dieses Fest feiern. Und vielleicht auch, die Ukrainer, die in der Stadt sind und das erste Mal mitfeiern, mitzunehmen. Wir werden das Fest mit einer Spendenaktion für die Gießener Tafel begleiten. Darüber hinaus loben wir bei den Betreibern einen Nachhaltigkeitsideenwettbewerb aus. Das sind drei Punkte, die signalisieren, dass wir den gesamtgesellschaftlichen Kontext sehen, in dem wir dieses Fest feiern.
Wie genau sieht die Aktion für die Tafel aus?
Wir werden darum bitten, dass der Pfandbetrag für die geliehenen Gläser in Sammeldosen gegeben wird. Vom T-Shirt-Verkauf der Gießen Marketing geht ein Euro pro Shirt an die Tafel. Und dann schauen wir hinterher, wie wir als Stadt den Erlös aus diesem Verkauf verdoppeln können. Das ist auch eine Botschaft, mit der wir auf zunehmend schwierige soziale Lebensumstände aufmerksam machen wollen. Auch darüber entsteht Gemeinschaft: Menschen sollen wissen, dass sie gesehen werden.
Bringt das Fest die Menschen in dieser Zeit mehr zusammen?
Das Stadtfest spricht sehr unterschiedliche Zielgruppen an. Sehr, sehr breit. Jeder kann mit jedem Geldbeutel kommen. Ein Konzertbesuch kostet hier kein Geld. Es ist für jeden Geschmack etwas dabei. Von daher hat die Stadt für alle auch ein Fest für alle.
Wird es einen Fassbieranstich geben?
Nein, anstelle des Fassbieranstichs wird es die Schweigeminute geben. Das ist ein kleines Symbol: Wir gehen nicht mit dem spritzenden Bier voran, sondern mit einem Moment des Innehaltens - um dann nicht weniger ausgelassen zu feiern.
Was ist neu bei diesem Stadtfest?
Es gibt viel bewährtes Programm, aber wir haben auch eine schöne Anzahl an Neuigkeiten. Es wird erstmals eine Bühne am Landgraf-Philipp-Platz geben. Die RoCo-Bühne, die sich im Rock-Pop-Bereich bewegt. Es wird auch ein Kindertheater erwartet. Im Dreieck Kaplansgasse/Katharinengasse wird es ein Weindorf geben. Am Selterstor wird es südamerikanisch-karibisch zugehen. Am Sonntag locken dort südamerikanische Tänze zum Mitmachen. Wir haben vor dem Rathaus den Tag der Kulturen, diesmal mit der Stadtraum-Bühne.
Stehen weitere Veränderungen an?
Erstmals gibt es speziell für das Stadtfest das »lebendig, bunt, Gießen«-T-Shirt. Und am Marktplatz wird Sicherheitspersonal eingesetzt, um Konflikte zwischen Bussen und Festbesuchern zu vermeiden.
Haben Sie als Kulturdezernent Akzente gesetzt?
Das Stadtfest lebt von der Vielfalt, dem Ideenreichtum und dem Engagement der Bühnenbetreiber und Kulturschaffenden. Mir war es als Kulturdezernent wichtig, genau diesen Raum mit dem Stadtfest jetzt wieder aufzumachen.
Spielen ÖPNV und Fahrrad eine besondere Rolle bei An- und Abreise?
Bei solchen Festen ist es grundsätzlich schlau und klug, den Öffentlichen Personennahverkehr zu nehmen und nicht das eigene Auto. Mit den Flyern zum Fest weisen wir ausdrücklich auf die ÖPNV-Verbindungen hin und bieten auch die Möglichkeit, sich per QR-Code direkt die aktuellen Verbindungen aufs Smartphone bringen zu lassen.
Spielt Mehrweggeschirr eine Rolle?
Ja. Die Gießen Marketing hat alle Anbieter von kulinarischen Angeboten darauf hingewiesen, dass Getränke und Speisen aller Art, die zum Verzehr vor Ort sind, nur mit Mehrweggeschirr abgegeben werden dürfen.
Spielt 2035Null darüber hinaus eine Rolle bei dem Fest?
Wir haben alle Betreiber aufgerufen, an unserem Nachhaltigkeitswettbewerb teilzunehmen. Er ist sehr niedrigschwellig. Es geht nicht um große Konzepte, sondern darum, dass jeder Betreiber überlegt, was er schon tut oder tun will, um an seinem Ort etwas unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten zu machen.
Wie könnte das aussehen?
Jemand könnte zum Beispiel sagen, dass er auf LED-Beleuchtung umgestellt hat. Oder dass er ein stromsparendes Kühlsystem anwendet. Wir wollen die Aufmerksamkeit auf die Frage richten, wie nachhaltig unsere Feste sind, und was man zukünftig dafür tun kann. Archivfoto: Friese
