Feine Risse in der Matrix
Die Kunsthalle Gießen eröffnet nach langer Sanierungspause am Freitag mit neuer Schau und fremdartigen Wesen aus einer anderen Welt.
Gießen. Sie tragen so klingende Namen wie Nervensäge, Derpy oder Nice Haircut (hübscher Haarschnitt). Ihren Betrachtern stehen sie zumeist mit offenen, zugewandten Blicken gegenüber. Und doch wird nicht recht klar, was es mit diesen seltsamen, rosa oder türkis betont artifiziell getönten Figuren auf sich hat.
Entworfen hat sie die Luxemburgerin Mary-Audrey Ramirez für ihre Ausstellung »Forced Amnesia« (Erzwungene Amnesie), die am morgigen Freitagabend (19 Uhr) in der Kunsthalle Gießen eröffnet wird. Wobei diese Aussage nicht ganz korrekt ist: Denn die in Berlin lebende Künstlerin nahm für die Entwicklung ihres Figurenensembles die Künstliche Intelligenz (KI) zu Hilfe, die sie mit Begriffen speiste, um Bilder zu erhalten. Die KI wurde damit zu einer Art Pinsel, zu einem Handwerkszeug, mit dem sie zwar arbeitete, über dessen Ergebnisse sie aber keine endgültige Kontrolle hatte, wie sie im Pressegespräch berichtet. »Die Resultate sind mir quasi entwischt.« Über viele Versuche mit Wortkombinationen ließ sie digitale Schöpfungen entstehen, die an unbekannte Insekten, mythische Wesen oder die Bewohner ferner Planeten denken lassen - und die zugleich einer Computerspiel-Ästhetik entsprungen scheinen.
Wer diese fremde Welt durch den neuen Eingang der Kunsthalle vom Berliner Platz aus betritt, sieht sich zunächst großen, weißen Wesen gegenüber, die den großen Galerieraum für sich eingenommen haben. Es sind Objekte aus Vinyl, die die als Textilkünstlerin bekanntgewordene Luxemburgerin in Handarbeit entstehen ließ. Diese farblosen Figuren lassen inmitten der nahezu klinisch weißen Umgebung und begleitet von sphärisch-sanften Elektroklängen (Simon Goff) an ein unfertiges Setting erinnern, bei dem ein Spieledesigner seine Arbeit noch nicht gänzlich beendet hat. Zugleich hängen kleine Bildschirme an den Wänden, durch die ein Blick auf weitere illustre Wesen genommen werden kann.
»Es sind Risse in unserer Matrix«, beschreibt Kunsthallen-Leiterin und Kuratorin Dr. Nadia Ismael die Szenerie, die in einem zweiten Raum bald klarere Konturen bekommt. Denn dort hat die Künstlerin eine Reihe von Porträts platziert, die sie selbst an alte Schlossfluren mit »einer Hall of Fame von alten Lords« erinnern. Hier zeigen sich die aus dem Computer geschlüpften Figuren in kräftigen Farben als Drucke auf Satinstoffen, die die Schärfe von Fotografien haben. In einem weiteren Raum ist schließlich eine etwas neblige Videoprojektion einer fremden Welt zu sehen, ebenso wie Skulpturen von farblosen Aliens, die aus dem 3D-Drucker kamen und wie ausgeblichene archäologische Artefakte wirken.
Als Bezug zu dieser obskuren Welt nennt Mary-Audrey Ramirez Videogames, die sie selber gerne spielt. Vor allem solche, die »möglichst wenig narrative Elemente haben«. Sie freue sich, wenn sich ihr dabei viele Fragen stellten, die sie nicht beantworten könne. Dieses Prinzip wendet sie auch auf ihre aktuelle Arbeit an. Viele Menschen hätten Angst, die Kunst verstehen zu müssen, doch »hier muss man nichts verstehen.« Ihre »in Leveln gedachte« Kunsthallen-Welt erschließt sich, wie Nadia Ismail formuliert, »auf sensorische Art: mit allen Sinnen«.
Entstanden ist die Ausstellung in Zusammenarbeit mit dem Casino Luxembourg, einer Einrichtung für Gegenwartskunst, und dessen Leiter Kevin Muhlen. Dorthin wandert die Schau nach ihrem Ende in Gießen auch, wo sie in veränderter Form ab Februar 2024 zu sehen sein soll.
Die Ausstellung von Mary-Audrey Ramirez wird am Freitag, 14. April , um 19 Uhr in der Kunsthalle Gießen eröffnet. Die Einführungen übernehmen die Kuratoren Nadia Ismail (Gießen) und Kevin Muhlen (Luxemburg). Zum Begleitprogramm der bis 30. Juni laufenden Schau gehört eine Alien-Erlebnistour für Kinder ab sechs Jahren am Sonntag, 7. Mai, ab 14 Uhr. In einem Vortrag am Freitag, 12. Mai, um 18 Uhr beschäftigt sich Max Kreis mit Künstlicher Intelligenz. Das Format »10 Fragen an ...« gibt es am Dienstag, 20. Juni, um 18 Uhr mit der Künstlerin. Hinzu kommen wieder Führungen und Kunstvermittlungen mit dem Kunsthallen-Team. Das gesamte Programm ist im Internet unter kunsthalle-giessen.de zu finden. (bj)
