Forschung auf Zeit
Befristete Verträge: Hochschulmitarbeiter protestieren in Gießen
Gießen . 19 Stellen für wissenschaftliche Mitarbeiter hat die Justus-Liebig-Universität (JLU) derzeit ausgeschrieben. Und egal, ob man künftig zur Hessischen Landesgeschichte des Spätmittelalters forscht oder sich der Orthopädie für Pferde widmet, haben die Stellen eines gemeinsam: Sie sind befristet. An der Technischen Hochschule Mittelhessen (THM) sieht es nicht anders aus, manche Verträge umfassen nicht einmal ein Jahr. Gegen diese Befristungspraxis, die auch an anderen Hochschulen Alltag ist, wurde am gestrigen Dienstag vor dem Uni-Hauptgebäude demonstriert. Aufgerufen zu dem Protest, an dem sich rund 70 Personen beteiligten, hatten die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und die Gewerkschaft Verdi.
Die Entwicklung sei »aus dem Ruder gelaufen«, viel zu viele Stellen seien mittlerweile befristet, kritisierte Tobias Cepok (GEW). »Dem müssen wir ein Ende setzen.« Die Gewerkschaft fordert ein »Wissenschaftsentfristungsgesetz« und kritisiert das Übermaß an Zeitverträgen mit »viel zu kurzen Laufzeiten«.
Verdi-Vertreterin und JLU-Personalrätin Petra Becker berichtete, wie sie sich nach ihrer Ausbildung an der Universität zunächst von befristetem Vertrag zu befristetem Vertrag gehangelt habe. Derartige Arbeitsbedingungen würden »kein gutes Arbeiten ermöglichen« und mit jedem Mitarbeiter, der die Hochschule verlasse, »geht auch ein Stück Wissen weg«.
Fachkräftemangel
Hinzu komme, dass es mittlerweile auch an der Universität einen Fachkräftemangel gebe, die Zahl der Bewerbungen sei stark eingebrochen. Dies liege nicht nur »an der schlechten Bezahlung im öffentlichen Dienst«, sondern auch an der fehlenden Perspektive.
Eine, deren Vertrag bald endet, ist Ina. Die junge Frau promoviert am Institut für Politikwissenschaft der JLU. Obwohl sie nur eine 50-Prozent-Stelle habe, habe sie in den vergangenen Jahren immer mehr sogenannte Daueraufgaben - wie etwa die Betreuung von Studierenden - übernehmen müssen, da Stellen nicht nachbesetzt worden seien oder Kollegen gekündigt hätten.
»Lehrjahre sind keine Herrenjahre« sei ein Spruch, den sie schon viel zu oft von ihrem Vorgesetzten gehört habe, kritisierte die Doktorandin. Die schlechten Arbeitsbedingungen seien auch eine Gefahr für die heimischen Hochschulen: »Wenn der Wissenschaftsstandort Gießen die Besten der Besten will, muss er ihnen auch etwas bieten.«
Seine Stelle sei auf drei Jahre befristet gewesen, sagte ein 29-Jähriger Doktorand im Gespräch mit dem Anzeiger. Eigentlich wäre sein Vertrag im Frühjahr ausgelaufen, nun habe er eine Verlängerung bis Ende des Jahres erhalten. Ob ihm das für seine Dissertation reicht, weiß er nicht. »Es kann sein, dass ich danach auf Arbeitslosengeld angewiesen bin oder im Supermarkt Regale einräume, während ich weiter forsche.« Hinzu komme, so ein 23-Jähriger, der derzeit als wissenschaftliche Hilfskraft beschäftigt ist, dass man im universitären Betrieb häufig umziehen müsse: »Für die Planbarkeit im Privatleben ist das nicht gut.«
Angeschlossen an den Protest hatte sich auch der Allgemeine Studierendenausschuss (Asta) der JLU. Ein Vertreter des Autonomen Hilfskräftereferats bemängelte, dass Verträge für studentische Hilfskräfte teils besonders kurz seien und Studierende keinen Zugang zur Personalvertretung hätten.
Die Studierendenvertretung nutzte die Aktion vor dem Hauptgebäude auch dazu, um auf die Auswirkungen der Energiekrise für die Studierenden aufmerksam zu machen. Sie wolle später »weder von befristetem Vertrag zu befristetem Vertrag leben noch jetzt beim Studieren frieren«, sagte Asta-Referentin Jenny Jörges und kritisierte die Bafög-Anhebung als zu gering. Desweiteren fordert der Asta eine Deckelung der Mensa- und Wohnheimpreise sowie ein bundesweit gültiges Semesterticket. Drei von vier Studierenden seien armutsgefährdet, mahnte Ronja von der Gießener Ortsgruppe des Bündnisses »Genug ist genug!«.
Während in Gießen und anderen Städten protestiert wurde, verhandelten in Wiesbaden die Gewerkschaften mit Vertretern des Ministeriums für Wissenschaft und Kunst. Es brauche »noch mehr öffentlichen Druck, um die politisch Verantwortlichen zum Handeln zu bewegen«, hieß es im Anschluss in einer Verdi-Pressemitteilung. »Trotz vieler warmer Worte hat sich an der skandalösen Befristungssituation nichts geändert«, kritisierte Dr. Mathis Heinrich, Sprecher der Verdi-Landesfachkommission Hochschulen. Über 80 Prozent des wissenschaftlichen und rund 20 Prozent des administrativ-technischen Personals seien auf Zeit angestellt.
