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»Fräuleins« als politische Kraft

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Von: Albert Mehl

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Ludwig Brake © Red

Frauen waren in Gießen bereits im 19. Jahrhundert aktiv und organisiert. Als »Sensation« bezeichnete dies der ehemalige Stadtarchivar Ludwig Brake bei einem Vortrag im Oberhessischen Museum.

Gießen. Sensationen sind in der Zunft der Geschichtswissenschaften eher selten. Dennoch stuft es Dr. Ludwig Brake als »Sensation« ein, was ein Darmstädter Kollege jüngst mit Blick auf Gießen herausgefunden hat: 1815 hat sich ein Gießener Frauenverein aufgelöst! Was gleichzeitig bedeutet, dass es den Verein vorher schon gegeben haben muss. Damit sei ein eindeutiges Indiz dafür gegeben, dass Frauen nicht erst im 20. Jahrhundert hierzulande ins politische Rampenlicht traten, so der ehemalige Stadtarchivar im Rahmen seines Vortrags »Politikverbot für Frauen? - Frauen in Gießener Vereinen des 19. Jahrhunderts«.

Der Vortrag mit Blick auf den Internationalen Frauentag (am 8. März) und in der Reihe des Oberhessischen Museums beleuchtet eine Reihe von weiblichen Initiativen, die der Ansicht widersprechen, dass Frauen im 19. Jahrhundert »nichts zu sagen hatten«, wie es Brake formuliert. Wirkliche Fortschritte für das weibliche Geschlecht habe es allerdings erst im 20. Jahrhundert, und dort teilweise auch erst in dessen zweiter Hälfte, gegeben. Zur Erinnerung: Das Wahlrecht für Frauen gab es im Deutschen Reich erst ab 1919, nach der 1918er Revolution.

In der Tat habe es in Preußen im 19. Jahrhundert ein Betätigungsverbot für Frauen in der Politik gegeben und damit einhergehend ein Vereinigungsverbot, was erst ab 1890 gelockert worden sei, berichtet Brake.

Annoncen im Gießener Anzeiger

Doch für das Großherzogtum Hessen, zu dem Gießen im 19. Jahrhundert gehörte, arbeitet der Historiker verschiedene Besonderheiten heraus. Vor allem anhand von Annoncen im Gießener Anzeiger weist Brake nach, dass Frauen ökonomisch und rechtlich selbstständig agieren konnten. Sei es, dass sie Unterricht und Dienstleistungen in unterschiedlichen Feldern anboten, sei es, dass sie als Witwen die Geschäfte ihrer verstorbenen Männer übernahmen. Diese Betätigungsfelder hätten sich »vielfältig aufgetan«, zeigt der Referent auf. Dazu hätten sie die unterschiedlichsten Konzessionen erhalten, sogar zum Brennen von Backsteinen. Auch wenn die Quellenlage »nicht günstig« sei, ließe sich doch eine ganze Reihe von Tätigkeitsfeldern belegen, in denen Frauen ihren Lebensunterhalt hätten sichern können, berichtet Brake.

Und so lässt sich nach dem ehemaligen Stadtarchivar aufzeigen, dass Frauen bei Vereinsgründungen sehr aktiv waren. Denn ein Verbot wie in Preußen, das sich im Vereinsrecht gegen die Beteiligung von Frauen richtete, habe es im Großherzogtum Hessen nicht gegeben. So sei beispielsweise am 27. April 1878 in Gießen ein Verein gegründet worden, dessen Ziel es gewesen sei, junge Frauen für Handarbeiten anzulernen. Das Vorbereitungs-Komitee dazu habe allesamt aus Frauen bestanden, Frauen, die überwiegend aus dem Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum stammten.

Wenn wir zurück auf den aufgelösten Frauenverein von 1815 blicken, dann war dessen Aufgabe in erster Linie die Linderung des durch die Napoleonischen Kriege eingetretenen Elends hierzulande. Und auch in der Folge, etwa bei der Gründung eines Vereins zur Unterstützung einer deutschen Flotte, seien diese Vereine »systemstabilisierend« gewesen, wie eine Zuhörerin anmerkt.

Ludwig Brake stimmt dem zu, dass diese Frauenvereine teilweise von der Obrigkeit institutionalisiert worden seien. Diese Vereine seien auch in einem »politischen Zusammenhang« zu sehen. Zum einen träten die Frauen, und etliche »Fräuleins«, aus ihrer Privatheit heraus. Und mit der Vereinstätigkeit hätten sie sich als gesellschaftlich-politische Kraft profiliert, und damit Beispiel für andere Frauen abgegeben: »Das mündete in die Frauenbewegung des 20. Jahrhunderts.«

Aus gehobenem Bürgertum

Zum anderen hätten Frauen nun auch wählen dürfen, auch wenn es erst einmal nur Vorstände gewesen seien. »Frauen erproben hier Formen, die über die Vereine hinausweisen«, fasst der Referent zusammen. Selbst wenn hier hinreichend Materialien und Quellen für genauere Studien fehlen würden, könne man doch etliche Protagonistinnen aus dem gehobenen Bürgertum nachweisen.

Was fehlt, sind weitere Informationen zu den in Gießen für das 19. Jahrhundert ebenfalls genannten Arbeitervereinen. Das wäre erst recht eine Sensation, wenn hier die Zunft der Geschichtswissenschaften fündig werden würde.

Archivfoto: Schultz

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