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»Frauen müssen eine Wahl haben«

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Literaturstudentin Anne (Anamaria Vartolomei) verliert an der Universität den Anschluss. Sie ist ungewollt schwanger und will das Kind auf keinen Fall behalten. © picture alliance/dpa/PROKINO Filmverleih GmbH

Trotz geplanter Abschaffung des Strafrechtsparagrafen 219a sieht Kristina Hänel kein baldiges Ende der Abtreibungsdebatte. Die Gießener Ärztin war zum Drama »Das Ereignis« zu Gast im Kinocenter.

Gießen. Da sind diese Blicke: betreten, abwertend, schockiert. Manchmal auch von allem etwas. Immer wieder. Jedes Mal, wenn Literaturstudentin Anne (Anamaria Vartolomei) bedeutungsvoll und doch möglichst beiläufig auf ihren leicht gewölbten Bauch zeigt und flüstert: »Ich will es nicht behalten.« Der erhoffte Beistand der so vertrauensvoll Eingeweihten bleibt aus. Was folgt, ist ein Mantel des Schweigens - und zunehmende Einsamkeit. Das französische Drama »Das Ereignis« zeigt eindringlich wie verstörend den Spießrutenlauf einer ungewollt schwangeren Frau im prüden Frankreich der frühen 1960er Jahre. Eine Abtreibung ist damals illegal und mit Gefängnisstrafe - auch für Mitwissende - bedroht. Die gesellschaftliche Ächtung gibt es selbstredend dazu.

Mit Annes verzweifelter Suche nach Hilfe ziehen die Schwangerschaftswochen wie ein fataler Countdown ins Land. Die Situation für betroffene Frauen ist heute - in Frankreich wie in Deutschland - eine andere. Die Tabuisierung aber ist geblieben. Noch immer ist der Schwangerschaftsabbruch im Strafgesetzbuch verankert, auch wenn die Durchführung unter bestimmten Voraussetzungen seit Mitte der 70er Jahre straffrei bleibt. Der zuletzt viel diskutierte Paragraf 219a steht mittlerweile kurz vor der Abschaffung durch die Ampel-Koalition. »Dass danach die Debatte zu Ende ist, glaube ich aber nicht«, sagt die Gießener Ärztin Kristina Hänel im Filmgespräch zu »Das Ereignis« im Kinocenter.

Der mehrfach preisgekrönte Film basiert auf dem gleichnamigen autobiografischen Roman von Annie Ernaux. Eine illegal durchgeführte Abtreibung kostete ihr als junge Frau beinahe das Leben. Der Weg in das mit Handtüchern ausgelegte Hinterzimmer der »Engelmacherin« war für Ernaux dennoch alternativlos. Während ihr Hausarzt mit der Schwangerschaftsdiagnose immerhin Mitleidsbekundungen ausspricht, entpuppt sich der danach aufgesuchte Gynäkologe als Abtreibungsgegner, der die junge Frau arglistig täuscht und ihr eine Injektion »zur Stärkung des Embryos« verabreicht. Anne steht alleine da, selbst enge Freundinnen wenden sich ab, im Studentenwohnheim wird sie kritisch beäugt. Und auch der Mann, der sie geschwängert hat, möchte keinen Kontakt solange »das Problem« nicht gelöst ist. Also versucht Anne auch alleine, ihre Schwangerschaft zu beenden. Ohne Erfolg. »Irgendwann möchte ich ein Kind, ich möchte aber kein Kind statt eines Lebens« - diesen Schlüsselsatz sagt die Studentin beim erneuten Besuch des Hausarztes, der wieder nur bescheinigen kann, dass der Fötus noch lebt. Anne will aber nicht an dieser »Krankheit« leiden, »die nur Frauen trifft und sie in Hausfrauen verwandelt«. Der akademische Abschluss und der Wunsch, Schriftstellerin zu werden, sind zum Greifen nah. Doch schwanger hat das talentierte Mädchen plötzlich keinerlei Chancen mehr.

»Den gesamten Film über ist die Frau auf der Suche nach einer Adresse, bis sie fast stirbt«, verdeutlicht Kristina Hänel im Anschluss. Dass Betroffenen die Zeit davon läuft, weil sie einfach keine Anlaufstelle finden und vor Hürden stehen, erlebt sie auch heute. Denn es gibt bundesweit nur wenige Ärzte, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen. Möglich ist der Eingriff nach der Fristenregelung bis zur zwölften Woche nach Empfängnis. Bis dahin müssen Frauen noch ein Beratungsgespräch nachweisen und anschließend eine mindestens dreitägige Bedenkzeit einhalten.

Zumindest die fehlende öffentliche Bereitstellung von medizinischen Information gehört wohl bald der Vergangenheit an. »Das wird mit der Abschaffung von 219a enden«, sagt Hänel, die die politische und gesellschaftliche Debatte 2017 maßgeblich ins Rollen gebracht hat. »Wir sehen aber durch unsere tägliche Arbeit in der Praxis, dass die Würde der Frau angetastet wird, wenn sie ungewollt schwanger wird«, betont die Allgemeinmedizinerin. Daran ändere die Streichung des umstrittenen Werbeparagrafen nichts. Durch die Verankerung im Strafrecht (Paragraf 218) würden Frauen, die abtreiben, noch immer kriminalisiert. Kristina Hänel ist sicher, dass in Deutschland mit dem schwindenden Einfluss der katholischen Kirche eine Liberalisierung einsetzen wird, wie es zuletzt etwa in Irland der Fall war. »Es sei denn, wir verlieren unsere Demokratie.«

Ausgrenzung und Ansehensverlust

Auch für die Ärzte, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, sei die Arbeit nach wie vor folgenreich. Zwar droht heute, anders als im 1963 angesiedelten Film, keine Gefängnisstrafe mehr. »Aber aus dem Kollegenkreis ausgegrenzt zu werden oder an Ansehen zu verlieren« sei je nach Gegend nicht selten. Dazu komme die ständige Belästigung durch militante Abtreibungsgegner. »Das ist Verfolgung«, sagt Hänel. Trotz dieser Einschüchterungsversuche erlebe sie aktuell eine Art »Wandel«. Durch Aktionen von Medizinstudierenden werde etwa die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen an einigen Universitäten inzwischen behandelt.

Nicht unkritisch sieht Kristina Hänel die Entwicklung im Bereich der Telemedizin, die beispielsweise in England durch die Corona-Pandemie einen Schub erfahren hat und nun auch für Deutschland diskutiert wird. Zwar funktioniere ein medikamentöser Abbruch Studien zufolge über telemedizinische Betreuung ähnlich gut wie in der Praxis. Die Behandlung per Webcam-Gespräch dürfe allerdings keine politische Lösung für den Ärztemangel sein. Dazu sei der medikamentöse Eingriff nicht für alle ungewollt Schwangeren die am besten geeignete Methode. »Frauen müssen eine Wahl haben«, macht Kristina Hänel deutlich. Für die Betroffenen bleibe die Situation vor allem eines: »Ein Dilemma. Da muss die Gesellschaft nicht noch reinschlagen.«

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Ärztin Kristina Hänel Archivfoto: dpa © DPA Deutsche Presseagentur

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