Frauenrecht und alte Bäume

Zum »Tag der Literatur« im Botanischen Garten Gießen würdigen Dr. Marlies Obier und Holger Laake das Wirken von Soziologin Henriette Fürth, einer gebürtigen Gießenerin.
Gießen. Soziologin, Frauenrechtlerin und gebürtige Gießenerin: Die 1861 geborene Henriette Fürth hat im Deutschen Kaiserreich und der Weimarer Republik eine für die damalige Zeit geradezu unglaubliche Karriere für sich erstreiten können. So war sie nicht nur wegen ihres Geschlechts, sondern auch wegen ihres jüdischen Glaubens in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts stigmatisiert worden. Sie schaffte es dennoch, sich erfolgreich gegen den Widerstand ihrer Umwelt durchzusetzen und wurde die erste weibliche Stadtverordnete der Stadt Frankfurt sowie das erste weibliche Mitglied der Gesellschaft für Soziologie.
Eine Veranstaltung im Rahmen des Aktionstags »Ein Tag für die Literatur« erinnerte im Botanischen Garten an die gebürtige Gießenerin. Besonderer Clou der Veranstaltung: Während Dr. Marlies Obier den zahlreichen Teilnehmern Werk und Leben Fürths näher- brachte, illustrierte Holger Laake das Aussehen und die Topographie des Botanischen Gartens, der schon zu Lebzeiten Fürths existierte, 1944 durch alliierte Bomben aber weitgehend zerstört wurde. Doch auch wenn kaum eins der Gebäude den Bomben entgangen ist, einige der Bäume, die schon zu Lebzeiten Fürths standen, stehen heute noch: Die zwei Platanen kurz hinter dem Eingang Sonnenstraße beispielsweise, sind noch Zeitzeugen des frühen 19. Jahrhunderts, wie Holger Laake erklärte.
Ob Henriette Fürth den Botanischen Garten in Gießen je besucht hat, ist nicht bekannt. Was aber bekannt ist, ist wie sehr sie die Natur in und um Gießen herum genoss. In Fürths Autobiographie »Streifzüge durch das Land eines Lebens« hielt die Gießenerin ihre Erinnerungen an ihre Jugend und Kindheit fest, die abrupt endete: Zwar besuchte die geborene Henriette Katzenstein ein Lehrerinnenseminar, ein weiterführendes Studium seiner Tochter hielt ihr Vater aber für nicht sinnvoll. Es folgte die Hochzeit mit Wilhelm Fürth, mit dem sie nach Frankfurt zog und dort acht Kinder bekam.
Doch Fürth blieb aktiv, trotz ihrer häuslichen Verpflichtungen: So publizierte sie schon 1903 mit »die geschlechtliche Aufklärung in Haus und Schule« ein sehr frühes Beispiel für sexual-aufklärerische Literatur.
Im Ersten Weltkrieg, währenddessen ihr Bruder mehrmals verwundet wurde, organisierte sie eine Kriegsküche in Bornheim, die für Nahrungsmittelengpässe Schule machen sollte. Nach dem Krieg gelang es Fürth, zusammen mit ihrem Bruder Simon Katzenstein, für die SPD politisch aktiv zu werden. Henriette wurde Stadtverordnete in Frankfurt, ihr Bruder gelang sogar der Sprung in das erste Parlament der Weimarer Republik. Doch so erfolgreich ihre Karriere und so schön ihre Erinnerungen an die Jugend in und um Gießen auch waren, ein Schatten liegt beständig auf dem Leben von Henriette Fürth - der Antisemitismus. Schon als Kind in Gießen kam sie mit offener Feindseligkeit gegenüber Juden in Kontakt:
Offene Feindseligkeit
»Wir lebten in einer Welt, die uns feindlich gesinnt war,« zitiert Marlies Obier aus Fürths Autobiographie und ergänzt dazu selbst: »Sie wurde meist als Jüdin in der Schule gemieden.« Mit der Machtergreifung der Nazis wurde alles noch schlimmer - Fürth wurden alle ihre Ämter entzogen und sie erhielt Berufsverbot. Auch ihrem Bruder, der im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft hatte, wurde seine anwaltliche Zulassung entzogen. »Und wie hat man es uns gedankt? Schimpf und Schande tut man uns an,« zitiert Obier Fürth in Bezug auf den Einsatz ihres Bruder im Krieg. Der Holocaust blieb Henriette erspart - 1938 starb sie in Bad Ems. Und dennoch, sie verstarb als »Fremde im eigenen Vaterland«, zitiert Obier aus einer Trauerrede anlässlich des Todes von Henriette Fürth.