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Für ein Ok bedarf es großer Mühen

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Schwerstarbeit: Performancekünstlerin Julie Andrée T. im Hardthofkeller. Foto: Schultz © Schultz

Zum Auftakt einer neuen Performance-Reihe der Kunsthalle Gießen traf im Unteren Hardthof eine Künstlerin aus den USA auf ihre Kollegin aus Kanada.

Gießen. Die Kunsthalle Gießen ist für ihre neue Performancereihe »Exbodiment« wegen ihres derzeitigen Umbaus aus dem Rathaus temporär auf den Unteren Hardthof gezogen. Dort machten die beiden Künstlerinnen Julie Andrée T. und Morgan O’Hara am Dienstagabend den Anfang. Die Atmosphäre bei der Eröffnung im Hof des malerischen Anwesens und in den atmosphärischen ehemaligen Brauereikellern war denn auch definitiv anders als bislang.

Besonders an der neuen Reihe ist die direkte Begegnung unterschiedlicher Künstler. Monatlich treffen dabei zwei internationale Gäste für eine gemeinsame Performance in Gießen zusammen. Ergebnis des Experiments: offfen. Der titelgebende Begriff »Exbodiment« ist ein Wortspiel: »Embodiment« bedeutet Verkörperung. Die Vorsilbe »Ex« steht für die Bewegung aus den Innen ins Außen.

US-Amerikanerin trifft Kanadierin

Zunächst ließ Morgan O’Hara, 1941 in New York geboren, jedoch die Besucher auf dem Rasen im Hof der Galerie die allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 in verschiedenen Sprachen mit der Hand abschreiben. Ihr Projekt (»Handwriting the Constitution«) umfasst von länderbezogenen Verfassungen bis hin zur allgemeinen »Erklärung der Menschenrechte« grundlegende Texte. Mit diesem langfristig angelegten Projekt möchte die Künstlerin zur Auseinandersetzung mit zentralen Rechten und Freiheiten anregen.

Für die in Venedig lebende O’Hara, die seit mehr als drei Jahrzehnten eine performative Form des Zeichnens ausübt, wohnt dem körperlichen Prozess des Handschreibens ein transformatives wie gesellschaftsbildendes Potential inne. Das Projekt wurde bisher 153 Mal durchgeführt. Die Künstlerin lud ein, jeweils eigene Handschriftprojekte durchzuführen und bot dazu ihre Hilfe per E-Mail an. »Es kommt darauf an, dass es weiterläuft«, sagte sie, übersetzt von der Kuratorin der Reihe Tarika Johar.

In der besonderen Atmosphäre des ehemaligen Brauereikellers, schon oft für Performances genutzt und dafür - außer klimatisch - auch bestens geeignet, begegneten die Besucher zu späterer Stunde dann einem kleinen Mädchen, das einsam und stumm auf einer Tafel Linien zeichnete. Eine Frauenstimme sang dazu etwas gruselig anmutende Töne, die räumlich nicht zuzuordnen waren.

Die Kanadierin Julie Andrée T., Jahrgang 1973, befand sich im Keller gegenüber. Im Performanceraum entfaltete sich nun ein rotes Band, gezogen von einem bis dahin unsichtbaren Faden, der Gesang hörte auf, und die Künstlerin schritt herein. In der Mitte des Raumes lag eine weiße Platte, etwa ein mal anderthalb Meter, neben der zwei Glaskrüge mit roter und weißer Farbe standen. Die Künstlerin tauchte ihre Hände in jeweils eine Farbe und malte ein großes »OK« auf die Platte. Alles ganz langsam.

Dann hievte sie mit sichtbarer Mühe die Platte auf die Schultern und wankte schnaufend durch den Raum, bis sie an der Kopfseite neben der Tafel zum Stehen kam. Das Kind war inzwischen zur Seite gehuscht. Damit noch nicht genug der Anstrengung, wuchtete die kanadische Künstlerin die Tafel auch noch hoch und lehnte sie ächzend gegen die Wand, was im Publikum eine enorme Spannung auslöste. Nach einem finalen Balanceakt rittlings auf der in der Raummitte aufrecht gehaltenen Platte - die pausenlos signalisierte, dass alles »OK« war, was man inzwischen ironisch auffasste - war die Aktion vorüber.

Das Ganze wurde von Morgan O’Hara mittels dreier großflächiger Bleistiftzeichnungen festgehalten und dauerte etwa 40 Minuten. Ein willkommenes Spektakel, eine schöne Abwechslung im Kunstbetrieb und eine interessante Auffassung von Kunst: schön war daran zwar nichts, viel Arbeit war es aber auf jeden Fall. Julie Andrée T. schnaufte und schwitzte, riskierte beim Hochwuchten an der Wand ein krachendes Scheitern ihrer Balanceparforce, und hatte sich bei alledem kein bisschen geschont und alles gegeben.

Oberbürgermeister und Kulturdezernent Frank-Tilo Becher freute sich, dass »zehn internationale Größen der Performancekunst« aus Mexiko, USA, Kanada und Europa von der Kunsthalle eingeladen wurden. »Die Kunsthalle trägt zur Internationalität der Stadt bei. Das ist wertvoll, und dieser Abend reiht sich da wunderbar ein.« Dieter Hoffmeister, Vorsitzender des Hardthofvereins und des Oberhessischen Künstlerbunds (OKB) sagte: »Wir freuen uns sehr, dass wir der Kunsthalle während der Baumaßnahmen ein Domizil bieten können. Der Hardthof kann so einmal mehr sein Potenzial herausstellen.« Die Reihe entstand in enger Zusammenarbeit mit dem Kölner Performance-Archiv »Die schwarze Lade«, deren Leiter und Performancekünstler Boris Nieslony anwesend war.

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Die Besucher schrieben die allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 mit der Hand ab. Foto: Schultz © Schultz

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