Für Handwerk motivieren

Die Obermeisterversammlung der Kreishandwerkerschaft Gießen will Berufsschulen in der Breite erhalten und mehr junge Menschen für handwerkliche Berufe anwerben.
Gießen. Die Ukraine-Krise, die signifikanten Preiserhöhungen bei Energie und Lebensmitteln sowie die andauernden Material-Engpässe in weiten Teilen der Wirtschaft, besonders im Handwerk, spielten im Bericht des Kreishandwerksmeisters Kay-Achim Becker (Beuern) bei der Obermeisterversammlung der Kreishandwerkerschaft Gießen im Bürgerhaus Kleinlinden praktisch keine Rolle. Der Grund: Laut Becker habe sich von der Obermeisterversammlung im Mai bis zum Dezember an der allgemein bekannten Lage kaum etwas verändert: »Die negative Entwicklung hält leider an.«
Näher ging der Kreishandwerksmeister auf das Nachwuchsproblem ein. Die Anwerbung junger Menschen zum Zweck einer Ausbildung in einem der vielen Dutzend Handwerkszweige sei das größte Problem der Gegenwart und wohl auch der Zukunft. Um die nach einer beruflichen Zukunft strebende junge Generation für das Handwerk zu motivieren, hängt laut Becker viel von einer Bewusstseinsänderung in Familien und der Berufsorientierung in den Schulen ab, aber auch von verstärkten Anstrengungen des Handwerks und seiner Organisationen selbst.
Dabei wachse sich das vom Handwerk, spezieller das von der benachbarten Kreishandwerkschaft Lahn-Dill initiierte und mittlerweile von der KH Gießen mitgetragene Projekt »Azubi Guides« zu einem vielversprechenden Baustein aus. Der Verein »Handwerk Mittelhessen« sowie ein Förderverein stehen für ein Gelingen des Projekts ein. Nachdem die beiden Landkreise Lahn-Dill und Gießen eine stattliche Anschubfinanzierung gewährt hatten, kommen laut Becker, der auch Vorsitzender des Vereins Handwerk Mittelhessen ist, nun noch die Stadt Gießen und die Handwerkskammer Wiesbaden als Unterstützer hinzu.
Umdenken
Ausgewählte, speziell ausgebildete und durchweg sehr motivierte Auszubildende oder Junggesellen, »Azubis Guides« eben, werben dabei in den Schulen - Haupt- und Realschulen sowie Gymnasien - bei ihren nur unwesentlich jüngeren Zeitgenossen als glaubwürdige und kompetente Vertreter ihrer Zunft für eine solide Ausbildung im Handwerk, das hervorragende individuelle Chancen für ein Fortkommen und Aufsteigen biete.
Optimismus ist laut Becker angesagt. Er habe das Gefühl, dass die Notwendigkeit, ausreichend Handwerker, sprich Fachkräfte unterschiedlichster Art, dringend erforderlich sind, um das gewohnte Alltagsleben in der Republik am Laufen zu halten, mittlerweile in der Bevölkerung angekommen sei. Für große Teile des Handwerks rechnet Becker jedoch mit Blick auf den Ausbildungssektor für 2023 mit einem »schweren Jahr«. Aber auch hier gebe es Unterschiede zwischen den Gewerken. So seien, anders als zum Beispiel das Lebensmittelhandwerk, die Elektriker, der Bereich Heizung-Sanitär-Klima und auch das Kfz-Gewerbe nicht so sehr vom Lehrlingsmangel betroffen. Die in den letzten Jahren in etlichen Gewerken kontinuierlich gesunkenen Ausbildungszahlen haben laut Becker auch Auswirkungen auf die Zukunftsfähigkeit etlicher Berufsschulen. Obwohl Klassengrößen bereits nach unten angepasst wurden, stünden, »wenn die Zahlen nicht mehr stimmen«, Zusammenlegungen an, was sich auch auf die Zahl der Berufsschulstandorte auswirken werde. Grundsätzlich kämpfe die Kreishandwerkerschaft dafür, gerade auch im ländlichen Raum möglichst viele Berufsschulen zu erhalten. Deren Wegfall, verbunden mit weiteren Wegen für die Berufsschüler, wirke sich bei jungen Menschen sicher negativ auf eine Entscheidung pro Handwerk aus. Diesbezüglich laufende Gespräche zwischen der Wirtschaft und der Politik bezeichnete Becker als »zäh«, zumal auch Themen wie die Ausstattung der Berufsschulen oder die mögliche Einrichtung von Internaten zur Block-Beschulung zu klären seien. Von der örtlichen, kleinteiligen und losweisen Vergabe öffentlicher Aufträge - eine permanente Forderung des Handwerks - ganz abgesehen.
Zähe Gespräche
Vizepräsident Andreas Brieske (Hüttenberg) überbrachte der Gießener Obermeisterversammlung die Grüße der Handwerkskammer Wiesbaden. Anders als Becker ging Brieske auf die aktuellen Umstände ein. So hätten sich die allgemeinen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen durch die Belastungen des Ukraine-Krieges und die hohe Inflation deutlich verschlechtert. Gekoppelt mit der Gefahr von Energieengpässen und den damit verbundenen enormen Preisexplosionen könne sich auch das Handwerk zunehmend weniger der schwierigen konjunkturellen Lage entziehen. An der Basis, beim Handwerker und seinem Kunden vor Ort, heiße dies vereinfacht oft: Entweder kommt kein Material herbei oder es ist keine Fachkraft da, die das Material verarbeiten kann.
Matthias Funk, Technik-Vorstand der Stadtwerke Gießen, stellte den Stand der Dinge in Sachen »Dekarbonisierung der Wärmeversorgung«, also die angestrebte Reduzierung von Kohlendioxidemissionen durch den Einsatz kohlenstoffarmer Energiequellen, aus der Sicht der SWG vor. Ein Drittel des gesamten Gießener Energiebedarfs von knapp einer Million Megawattstunden jährlich entfällt laut Funk auf den Bereich Wärme. Künftig sollen verstärkt Abwärmequellen CO2-frei nutzbar gemacht werden: »Abwärmenutzung hat, weil das Potential hoch ist, enorme CO2-Einsparpotentiale.« Vor allem sei die Abwärme bei der Wasserstofferzeugung vielversprechend. Dazu müsse jedoch auch oder gerade ein Industrieland wie Deutschland »an vielen Stellen effizienter werden«. Es gelte, viel mehr Verständnis für diese Möglichkeiten zu wecken: »Wenn wir das jetzt nicht anfangen, dann wird das nichts«, so Funk.
Schließlich verabschiedete die Vollversammlung den Etat der KH mit seinen vier Unterhaushalten, der in der Summe in Einnahmen und Ausgaben ausgeglichen bei rund 2,8 Millionen Euro geplant ist.