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»Gegenwärtig zählt jede Kraft«

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»Ein Klinikum ist eine hochkomplexe Einrichtung, die nur funktionieren kann, wenn alle Berufsgruppen ihren Aufgaben nachkommen können«, betont der Ärztliche Geschäftsführer Prof. Werner Seeger. Archivfoto: Docter © Frank-Oliver Docter

Dass am Uniklinikum Gießen ab sofort auch Corona-positive Mitarbeiter eingesetzt werden dürfen, hat für reichlich Aufsehen gesorgt. Hier erklärt Prof. Werner Seeger die Entscheidung.

Gießen (bl). Ab sofort dürfen am Uniklinikum Gießen auch Corona-positiv getestete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eingesetzt werden - sofern sie symptomfrei sind, sich selbst für arbeitsfähig erklären und eine FFP2-Maske tragen. Möglich macht das ein Erlass der Landesregierung »zur Aufrechterhaltung der Patientenversorgung in den hessischen Krankenhäusern bei quarantäne- beziehungsweise isolationsbedingtem Personalausfall«. Und weil hier offenbar ein neuer Höchststand erreicht worden ist, der dreimal so hoch liege wie der bisherige Spitzenwert vom Dezember 2020 und das UKGM an Grenzen stoßen lässt, habe man sich zu diesem Schritt entschieden. Der Ärztliche Geschäftsführer Prof. Werner Seeger beantwortet an dieser Stelle weitere Fragen zu dieser Regelung.

Was war der endgültige Auslöser, um die Meldestufe 2 (Gelb) für das UKGM am Standort Gießen auszurufen?

Die Zahl der Krankheitsausfälle in allen Bereichen des Klinikums hat einen nie dagewesenen Höchststand erreicht. Dies betrifft zum einen Erkrankungen, die unabhängig von Corona-Infektionen sind. Zum anderen führt die hohe Dauerbelastung der vergangenen zwei Jahre vielfach zur Erschöpfung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter - und damit vermehrt zu Fehlzeiten. Insbesondere ist die Zahl der Corona-bedingten Erkrankungen und/oder Isolationsverpflichtungen dramatisch angestiegen: Im Vergleich zum bisherigen Höchstwert im Dezember 2020 liegen wir gegenwärtig bei dreifach höheren Werten. Vergleichbare Beobachtungen machen auch bereits andere Krankenhäuser in Hessen, die daraufhin ebenfalls die Meldestufe 2 eingeleitet haben.

Welche Risikoabwägung haben Sie konkret vorgenommen, die zu diesem Ergebnis geführt hat?

Ich möchte unsere Risikoabwägung an einem Beispiel erläutern: Ein patientenferner, aber für das Funktionieren eines Klinikums der Maximalversorgung unerlässlicher Bereich ist die zentrale Sterilisationsabteilung. Dort werden alle Instrumente für jegliche operative oder auch sonst hygienekritischen Tätigkeiten aufbereitet. Ohne einen funktionierenden Sterilisationsbereich kann ein Klinikum wie das UKGM nicht arbeiten. Am Mittwoch befanden sich knapp zehn Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Urlaub, ohne kurzfristig zurückgerufen werden zu können; 12,5 Prozent derjenigen, die zuvor notdienstmäßig in der Nacht eingesprungen waren, konnten aus eben diesem Grund nicht eingesetzt werden, nochmal 38 Prozent waren erkrankt. Zusammen fehlten also 60 Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Und wie genau hat sich das dann ausgewirkt?

Dies führte zu einer dramatischen Funktionseinbuße des Sterilisationsbereiches mit der Konsequenz, das gesamte OP-Programm zu stoppen und weitestgehend nur auf die Durchführung der absoluten Notversorgungseingriffe auszurichten. Sogenannte »elektive« Eingriffe sind aber keineswegs beliebig zu verschieben, ihr Aussetzen hat vielfach ebenfalls kritische Nachteile für die betroffenen Patienten. Somit ist für jeden nachvollziehbar, dass ein solcher Funktionsverlust unausweichlich mit Patientengefährdung verbunden ist und unter Einsatz aller Reserven behoben werden muss. Es ist eindeutig weniger Patientengefährdung zu erwarten, wenn in diesem Bereich unter Wahrung aller Schutzmaßnahmen symptomfreie Mitarbeiter mit Corona-Infektion eingesetzt werden, als dass auf diese Maßnahme verzichtet wird - mit daraus resultierender Unterversorgung kritischer Patienten.

Sind nicht allein die Krankheitsausfälle in den Patienten-nahen Bereichen relevant?

Nein, das ist nicht der Fall. Ein Klinikum ist eine hochkomplexe Einrichtung, die nur funktionieren kann, wenn alle Berufsgruppen ihren Aufgaben nachkommen können. Das eben genannte Beispiel macht dies deutlich, aber ebenso gilt es für die komplexen Abläufe im Versorgungsbereich, für das Datenmanagement der Patienten, für Hygiene und Reinigungsmaßnahmen usw. Insofern zählt gegenwärtig jede Kraft in allen Arbeitsbereichen, um unseren Aufgaben als Maximalversorger der gesamten mittelhessischen Region gerecht zu werden.

Was wird denn unter »vulnerablen Bereichen« verstanden und wie wird das intern im Klinikum umgesetzt?

Laut Erlass soll der Einsatz Corona-infizierter Mitarbeiter in »vulnerablen« Bereichen möglichst vermieden werden. Dazu haben wir für unseren internen Ablauf Folgendes festgelegt: »Tätigkeiten mit direktem Patientenkontakt können erst aufgenommen werden, wenn der täglich durchzuführende Antigenschnelltest (als Selbsttest) negativ ist.« Tätigkeiten, auch auf Stationen, und in anderen Bereichen ohne direkten Patientenkontakt können dagegen, wie im Erlass definiert, bei Symptomfreiheit und auf freiwilliger Basis durchgeführt werden.

Gibt es bereits Rückmeldung aus dem Kreis der Mitarbeitenden zu diesem Vorgehen?

Hier gibt es ein breites Spektrum von Reaktionen. Das reicht von Mitarbeitern, die durch die hohe Belastung der zurückliegenden Monate sehr erschöpft sind und eine coronabedingte »Auszeit« zur Regeneration nutzen wollen. Auf der anderen Seite gibt es Mitarbeiter, die sehr froh sind, bei Symptomfreiheit nicht länger von ihrer Tätigkeit im Klinikum fernbleiben zu müssen und ihre Kolleginnen und Kollegen vor Ort gerne unterstützen wollen.

Als wie hoch wird das Ansteckungsrisiko eingeschätzt?

Wir haben in der zurückliegenden Zeit der Corona-Pandemie sehr genau analysiert, auf welchem Weg stationäre Patienten im Klinikum eine Corona-Infektion erwerben können. Diese Analyse hat gezeigt, dass dies nahezu ausschließlich über Mitpatienten, die eine nicht erkannte Infektion mit ins Klinikum hineingebracht haben, und über Besucher - trotz der permanenten Testpflicht - geschehen ist. Insgesamt sind es relativ zu dem Patientenaufkommen sehr wenige Fälle. Nach der Initialphase, in der wir alle klinikinternen Schutzmaßnahmen etabliert haben, ist eine Infektion von Patienten durch Mitarbeiter des Klinikums quasi nicht mehr aufgetreten. Durch die Regelung, dass Arbeiten mit direktem Patientenkontakt erst bei negativem Schnelltest erfolgen dürfen, in Verbindung mit den verschärften Schutzmaßnahmen, erwarten wir, dass sich daran nichts ändert. Seite 18

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