Geschichte in 24 Kartons

Gießen. Anfang Februar feierte Uta Schliephake ihren 90. Geburtstag. Sie erzählte, dass sie seit Längerem die Frage bewegt, wohin sie die Dokumenten-Sammlung geben sollte, die ihre Eltern ihr hinterlassen hatten und die sie selbst fast 30 Jahre lang gehütet, sortiert und ergänzt hat. Zuletzt in säurefreie Archivkartons, die der frühere Stadtarchivar Dr.
Ludwig Brake ihr überlassen hatte.
Die pensionierte Lehrerin hat über Jahre hinweg bei Anfragen gern geholfen, hat Forschenden Einblick in die teils privaten Dokumente gewährt. Sie hat Fotografien, Briefe und Tagebücher in Kopien zur Verfügung gestellt. Davon hat auch die Autorin dieses Artikels mehrmals profitiert, weswegen sie die Nachlasshüterin darin bestärkte, diese Dinge an ein Archiv zu geben. Vor einer Übergabe hat sie natürlich ihre Familie gebeten, einen Blick darauf zu werfen und der Entscheidung zur Archivabgabe zuzustimmen. Ihre vier Nichten sind einverstanden. Um einen ersten Überblick zu bekommen waren Stadtarchivar Dr. Christian Pöpken und Universitätsarchivar Dr. Joachim Hendel im Juni dieses Jahres zu ihr gefahren. Sie einigten sich darauf, dass das Universitätsarchiv der bessere Ort dafür sei. »Es handelt sich fast durchweg um Dokumente zum Leben von Universitätsangehörigen. Wir gehen davon aus, dass Forschende sich bei Suchanfragen zuerst an die Universität wenden würden«, erklären beide.
In der letzten Novemberwoche war Abholtermin. Der Archivleiter und sein Mitarbeiter Lutz Trautmann fuhren mit einem Kastenwagen zu ihrem Wohnhaus in der Frankfurter Straße, um alles in die Universitätsarchiv-Kisten verpackt einzuladen. In der Reihenfolge und Nummerierung, die Uta Schliephake erarbeitet hatte.
»Es bleibt in dieser Zusammenstellung als Nachlass-Sammlung«, versichert Dr. Hendel. Für die Nachlassgeberin ist die Abgabe zugleich »schmerzhaft und eine Erleichterung«, wie sie sagt. Es gibt noch einige wenige Dokumentenbündel, die sie behält. »Das kann später noch ans Archiv gegeben werden, kein Problem.«, versichert Dr. Hendel. Welche Universitätsangehörigen gehören nun zu ihren Vorfahren? Ihr Vater Dr.med. Erwin Schliephake, wurde bei dem Gießener Psychiatrie-Professor Dr. Robert Sommer promoviert, in der Sammlung befindet sich einiges aus seiner Studenten- und seiner Dozentenzeit. Später war er Leiter des Krankenhauses Balserisches Stift. Die Großeltern mütterlicherseits waren Auguste und Dr. med. Hans Köppe, der erste Kinderarzt Gießens und Leiter der ersten Universitäts-Kinderklinik. Großmutter Auguste war die Tochter des Gießener Chemie-Professors August Laubenheimer, der als erster Wissenschaftler überhaupt in die Industrie ging, zu den Farbwerken in Höchst.
Über die Laubenheimer-Linie ist im Übrigen die frühe Mobilitätsgeschichte der Stadt Gießen zu verzeichnen: es gab den »Chaussée-Jakob«, der den Bau der ersten großen Chaussée leitete, also die Einfallstraße nach Gießen, die wir heute als Frankfurter Straße kennen. Dessen Sohn gleichen Namens wurde in der Familie »Bahn-Jakob« genannt, da er den Bau der Main-Weser-Bahn leitete.
Über die Schliephake-Linie reicht die Verwandtschaft bis zu dem Mediziner Prof. Friedrich Wilhelm Balser, dem zu Ehren posthum das Balserische Stift gegründet wurde. Seine Tochter Caroline heiratete den Chemiker Heinrich Will, Schüler, Mitarbeiter und Nachfolger von Justus Liebig. Die Will-Tochter Sophie heiratete den Geografie-Professor Karl Zöppritz. Und von deren Töchtern heiratete Margarete den Juristen Otto Eger und Gertrud den Mediziner Fritz Schliephake (»der alte Sanitätsrat«). So schließen sich die universitäts-familiären Kreise. Und es sei ergänzt: Von allen Genannten sind die Grabstätten auf dem Alten Friedhof erhalten.
Jetzt steht dem Universitätsarchiv erst mal die Aufgabe des Verzeichnens bevor, damit der Zugriff auf die diversen Nebenbereiche künftig möglich ist. Wie etwa die persönlichen Erinnerungen von Sophie Zöppritz und Auguste Köppe, deren Engagements sich auf die Bereiche Wohltätigkeit und Wandervogel bezogen. Insgesamt sind es bereits 24 Archivkartons und zwei Regalmetern mit Fotoalben.