Gießen als Hochschulstandort stärken

Justus-Liebig-Universität und Technische Hochschule Mittehessen haben weniger Studenten. Sollte die Stadt Gießen reagieren?
Gießen. Muss die Stadt auf sinkende Studierendenzahlen an Justus-Liebig-Universität (JLU) und Technischer Hochschule Mittelhessen (THM) reagieren? Die Fraktionen des Stadtparlamentes bewerten das unterschiedlich. »Die Hochschulen sind für die Stadt konstitutiv, sowohl für die Infrastruktur, aber auch für die Zusammensetzung unserer Stadtgesellschaft, das kulturelle Angebot und vieles mehr. Deshalb muss eine Entwicklung, wie wir sie jetzt sehen, natürlich auch die Stadt interessieren und beschäftigen«, meint Frederik Bouffier von der CDU. »Ähnlich wie die beiden Hochschulen sehen wir zunächst keine lokalen Gründe für die sinkenden Studierendenzahlen. Diese sind bundesweit rückläufig«, antwortet Christopher Nübel als Vorsitzender der SPD-Fraktion.
Bundesweiter Wettbewerb
Auch die Fraktionsgemeinschaft Gigg+Volt verweist auf den Trend in ganz Deutschland. Die Anzahl der 17- bis 22-Jährigen sei seit 2018 ebenso rückläufig wie seit Corona die Zahl der ausländischen Studierenden. »Generell sind im Wintersemester 2022/23 laut Destatis ein Prozent Studierende weniger eingeschrieben (in Hessen insgesamt vier Prozent weniger), wobei dies in erster Linie die Unis betrifft, während die Zahlen in den Fachhochschulen noch minimal gestiegen sind.« Wenn Ziel der beiden heimischen Hochschulen sei, möglichst viele Studierende an sich zu binden, stünden sie in einem Wettbewerb der deutschen Hochschulstandorte. Und angesichts dieser Konkurrenz »müssen wir weiter für eine hohe Attraktivität für Studierende sorgen«. Dazu gehöre vor allem die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum. »Hier fordern wir auch vom Land Hessen und dem Studentenwerk ein noch höheres Engagement bei der Schaffung von Wohnraum für Studierende«, macht Nübel deutlich. Darüber hinaus wünschten sich Studierende ein attraktives Lebensumfeld, inklusive Kulturleben. Die fraktionslose Stadtverordnete Martina Lennartz argumentiert ähnlich: »Die Stadt soll schnellstens Studentenwohnungen bauen und muss vom Land die notwendige Finanzausstattung fordern, wie das in der hessischen Verfassung vorgesehen ist, und nicht kleinlaut den Forderungen des Regierungspräsidiums nach Kürzung im sozialen Bereich nachkommen.« Bouffier verweist dagegen unter anderem auf planungsrechtliche Elemente wie ein neues Vergnügungsstättenkonzept oder die Änderung bestehender Bebauungspläne, etwa in der Ludwigstraße. Dadurch könne die Stadt beispielsweise die infrastrukturellen Voraussetzungen schaffen, um die Attraktivität des Nachtlebens mittel- bis langfristig zu steigern.
»Hätten wir in Gießen ein funktionierendes Stadtmarketing, hätte man dazu sicher ein Konzept. Leider fehlen diese Konzepte komplett«, moniert Günter Helmchen. Gießen habe immer das Problem, dass es sich Anforderungen erst dann stelle, wenn »das Kind schon in den Brunnen gefallen ist«, kritisiert der Fraktionsvorsitzende der Freien Wähler. Die AfD spricht einige Problemfelder an, rät aber, die »Entwicklung der Studentenzahlen (besonders an der THM) zunächst für die kommenden zwei bis drei Semester zu beobachten und keine Maßnahmen und Eingriffe vonseiten der Stadt vorzunehmen«.
Attraktivität durch Klimaschutz
Neben einem positiven städtischen Image nennt Gigg+Volt »die gute Erreichbarkeit der Stadt vom Umland« als wichtigen Faktor. Denn die Mehrheit der Studierenden lebe ja nicht in Gießen, was besonders für die THM gelte. Deshalb habe die Fraktionsgemeinschaft im Zusammenhang mit dem Haushalt eine Machbarkeitsstudie für die RegioTram beantragt, die abgelehnt wurde. Themen wie Klimaneutralität und Nachhaltigkeit könnten bei der Wahl des Studienortes eine wichtige Rolle spielen. »Bei dem letzten Punkt können wir uns schon vorstellen, dass eine ›2035Null‹-Stadt, die sich als Vorzeigestadt im Klimaschutz und bei der Klimawandelanpassung entwickeln würde, auch von besonderer Attraktivität für THM-Interessenten mit ihren Studiengängen, aber auch für einzelne Studienrichtungen an der JLU sein könnte. Bisher tut sie das unserer Überzeugung nach nicht in ausreichendem Maße.«
Die Hochschulen seien von herausragender Bedeutung. »Wir berücksichtigen das in allen Fragen der Stadtplanung und Stadtentwicklung«, teilt Vera Strobel mit. Eine attraktive Stadt für junge Menschen werde zukünftig noch stärkere Bedeutung für die Wahl des Studienortes erlangen, denkt die Fraktionsvorsitzende der Grünen. Vor allem attraktive Freizeit- und Grünflächen, Sport- und Kulturangebote seien entscheidend. JLU und THM stärkten den Standort Gießen und »bringen junge Menschen mit neuen Ideen«, sekundiert Melanie Tepe von der Gießener Linken. Daher sei es für die Fraktion sehr wichtig, dass beide Hochschulen gestärkt würden und Stadtplanung und -entwicklung ihre Anliegen berücksichtigten, so die Fraktionsvorsitzende.
Gießen könne bald Großstadt werden und »um das zu erreichen, brauchen wir die Studierenden. Allerdings sollte es nicht unser Ziel sein, auf Masse statt auf Klasse zu setzten. Wir sind eben zur Yuppie-Stadt geworden und wollen einfach nicht mehr jeden. Hier muss auch das Stadtmarketing reagieren und sich mehr auf exklusiven ›Content‹ konzentrieren«, schreibt Darwin Walter von »Die Partei«.