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Gießen, eine Durchschnittsstadt

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Der Einbaum ist 2004 bei den Bauarbeiten für die Galerie Neustädter Tor entdeckt worden. Gefällt wurde die Eiche für das Boot um das Jahr 791. Foto: Scholz © Scholz

Prof. Christine Reinle von der Justus-Liebig-Universität nimmt die Geschichte der Stadt Gießen im Mittelalter in den Blick.

Gießen (ebp). Es gibt wohl kaum jemanden in Gießen, der den Einbaum, der 2004 bei den Bauarbeiten für die Galerie Neustädter Tor gefunden wurden, noch nie gesehen hat - sei es live im Rathaus oder auf einem Foto. Gefällt wurde die Eiche für das Boot um das Jahr 791 und damit lange bevor Gießen erstmals urkundlich erwähnt wurde. »Dazwischen liegt eine Spanne von rund 400 Jahren, über die wir nichts wissen«, sagt Christine Reinle, Professorin für Deutsche Landesgeschichte an der Justus-Liebig-Universität. In einem Vortrag im Oberhessischen Museum nahm die Historikerin nun das mittelalterliche Gießen in den Blick.

Gegründet wurde Gießen Mitte des 12. Jahrhunderts. Damals ließ Graf Wilhelm von Gleiberg hier eine Wasserburg errichten. Der Einbaum sei ein Beleg dafür, dass bereits im achten Jahrhundert die Lahn als Wasserstraße genutzt worden sei. Eine Besiedelung lasse sich dadurch aber nicht nachweisen.

Puzzle mit Lücken

Aufgrund der durchgehenden Bebauung könnten archäologische Untersuchungen in der Stadt lediglich bei Bauarbeiten durchgeführt werden. Und auch die schriftliche Überlieferung ergibt ein Puzzle mit vielen Lücken: »Alles was wir wissen, entnehmen wir Überrestquellen wie Urkunden oder Akten.« Statt auf Szenen aus dem Alltag liegt der Fokus daher automatisch auf Verwaltungsvorgängen.

1248 wird Gießen erstmals als Stadt erwähnt und 1264/65 an die Landgrafen von Hessen verkauft. In der Folge sei Gießen immer wieder im Kontext militärischer Auseinandersetzungen erwähnt worden, so Reinle. Die militärische Bedeutung der Stadt im Spätmittelalter dürfe man aber nicht überbewerten.

Zur Bewachung und Verteidigung der Burg wurden niederadlige Burgmannen eingesetzt, die etwa aus Buseck oder Heuchelheim kamen, »aber auch aus bedeutenderen Häusern wie Merenberg«. Die Zahl der Burgmannen schwankte zwischen acht und rund 20, denn »bei einer militärischen Bedrohung wurde das Personal aufgestockt«. Aus dem Zinsregister lasse sich zudem entnehmen, dass es neben den Burgmannen auch andere Adelige in Gießen gegeben hat, so Reinle.

Archäologische Funde am Marktplatz geben zudem Aufschluss über den Handel und das Handwerk in der Stadt. So sei Schmuck gefunden worden, der auf wohlhabende Eigentümer schließen lässt. Auch Keramik und Utensilien zur Salbenherstellung seien freigelegt worden. Zwar seien erst für das Jahr 1442 Jahrmarktsprivilegien nachweisbar, einen Güteraustausch müsse es jedoch auch zuvor gegeben haben.

54 Handwerker

Wohl um 1300 wurde die neue landgräfliche Burg, das Alte Schloss, gebaut und die Stadt sukzessive erweitert. Für das Jahr 1502 belegen Quellen 273 steuerpflichtige Männer. Anhand dessen lasse sich eine Einwohnerzahl von etwa 1100 bis 1400 ableiten. »Marburg hatte zeitgleich etwa 3000 Einwohner«, verdeutlichte Christine Reinle.

Unter den Einwohnern konnten die Historiker 54 Handwerker ausmachen, darunter Weber, Schuster und Fleischhacker. Zunftbriefe seien aber erst für die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts und damit vergleichsweise spät nachweisbar.

Eine nennenswerte jüdische Gemeinde oder Infrastruktur habe es in Gießen im Mittelalter nicht gegeben. Seit den 1330er Jahren lassen sich laut Reinle vereinzelt Juden in der Stadt nachweisen. 1349 seien sie auch in Gießen für die Pest verantwortlich gemacht und verfolgt worden.

Besonderheiten des mittelalterlichen Gießens herauszustellen, sei schwierig. »Die Befunde sind bis in die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts durchschnittlich. Das hat es so auch anderswo gegeben« Sowohl Marburg als auch Grünberg seien Gießen voraus gewesen. »Die Stadt hatte keine überragende kulturelle oder wirtschaftliche Funktion.«

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