Große Widersprüche bei Vergewaltigungsvorwurf
Gießen (sow). Freispruch lautete das Urteil, das der Vorsitzende Richter Heiko Kriewald bei der Verhandlung am Jugendschöffengericht verkündete. Dabei wogen die Vorwürfe zunächst schwer, die sich gegen die beiden jungen Männer (heute 21 und 18 Jahre alt) richteten. Denn es ging unter anderem um Vergewaltigung, Freiheitsberaubung und Nötigung. Laut Anklage sollen sie im Juni 2021 eine 19-Jährige in die Gießener Wohnung des Jüngeren mitgenommen haben.
Dort habe sich der Ältere dann an der Frau sexuell vergangen. Zuvor habe er sie gewaltsam ausgezogen. Der 18-Jährige soll während der Taten nicht dabei gewesen sein. Später sei er zurückgekehrt und habe die noch nackte Frau mit dem Handy gefilmt, um sie mit den Aufnahmen zu erpressen.
Auf diese Weise genötigt, habe das Opfer dem damals noch jugendlichen Tatverdächtigen seine ganze Barschaft in Höhe von 450 Euro ausgehändigt, bevor es die zuvor abgeschlossene Wohnung verlassen durfte.
Am Amtsgericht Gießen machte die junge Frau allerdings widersprüchliche Angaben. Sie schilderte mit Hilfe einer Dolmetscherin das Geschehen - wenn auch nur zögerlich. Sie gab an, den älteren der beiden aus Syrien stammenden Landsmänner flüchtig aus der Erstaufnahmeeinrichtung gekannt zu haben. Mit ihm sei sie am Tattag in die Wohnung des Jüngeren gegangen, der in einer Wohngruppe für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge lebte.
Doch dann beschrieb sie, dass beide Männer versucht hätten, sie auszuziehen und dass der Jüngere sie schon währenddessen gefilmt und nicht die Wohnung verlassen habe. Zu dem sexuellen Übergriff konnte sie nichts sagen. Nur: »Als beide fertig waren, haben sie versucht, mich zu begrapschen, obwohl ich schrie, dass sie mich loslassen sollen.« Auch auf mehrmaliges Nachfragen des Gerichts machte die Frau keine weiteren Einlassungen, was »als beide fertig waren« bedeutete. Sie konnte auch nicht bestätigen, dass sie gänzlich nackt gewesen sei. Das Handyvideo habe der Jüngere auf ihr Verlangen hin gelöscht. Geld habe sie zwar dabei gehabt, nach eigenen Angaben 700 Euro, von einer möglichen Nötigung erzählte sie aber nichts.
Kratzer im Gesicht
Auch die Erklärungen des jüngeren Angeklagten trugen nichts Erhellendes zur Aufklärung bei. Er bestätigte zwar, dass er mit dem Mitangeklagten und der Zeugin in seinem Zimmer gewesen sei. Dann habe er das Zimmer für eine halbe Stunde verlassen, um etwas einzukaufen. Als er ohne Einkäufe eine halbe Stunde später wieder ins Zimmer trat, habe die junge Frau in seinem Bett unter der Decke gelegen. Und aus Angst vor Repressalien habe er gleich sein Mobiltelefon herausgeholt, um die Situation kurz zu filmen. Der Bekannte stand derweil mit nacktem Oberkörper im Zimmer.
Die junge Frau hatte ihm zufolge Kratzer im Gesicht und schrie, er solle nicht filmen. Daraufhin habe er ihr das Handy ausgehändigt und sie habe die Aufnahmen selbst gelöscht. Die Tür sei nicht verschlossen gewesen und es habe auch keine Erpressung gegeben. Allerdings habe er 50 Euro von ihr bekommen, weil ein Bekannter von ihr ihm das Geld noch geschuldet habe.
Staatsanwältin Jessica Schröder hielt ihm Chatverläufe und Anrufprotokolle vor, die etwas anderes vermuten ließen. Es ging unter anderem darum, dass sich die Angeklagten kurz nach dem Geschehen besorgt äußerten, ob wegen »der Sache« wohl die Polizei eingeschaltet würde.
Nach einem Rechtsgespräch zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung fiel schnell das Urteil: Freispruch. Die Widersprüche zwischen polizeilicher Aussage und gerichtlicher Beweisaufnahme waren zu groß. »Zum maßgeblichen Vorwurf der Vergewaltigung hat die Zeugin heute gar nichts erwähnt«, stellte die Staatsanwältin fest. Da sonstige Beweismittel fehlten, sei man auf eine konsistente Aussage der Betroffenen angewiesen. »Die gab es heute aber nicht.« Dabei hegten sowohl Richter als auch Staatsanwältin durchaus Zweifel an der Unschuld der Angeklagten. »Aber Zweifel allein reichen für eine Verurteilung nicht aus.«