Großer Text für schnöde Muschel

Nach den ersten Seiten stellt sich die Frage, ob man sich das Buch wirklich antun will. Nicht, weil es schlecht geschrieben ist, nein, im Gegenteil: weil es so gut geschrieben ist. Voyeuristisch, fast pornogafisch, unter die Haut gehend. Denn wie Andreas Ammer die »Austern« knackt und schlürft, mit der Gabel in ihren »Eingeweiden« herumstochert, das Zucken wahrnimmt, wenn er sie mit Zitronensaft beträufelt und sie bei lebendigem Leib verschlingt, das hätte man in dieser Reihe nicht erwartet, da sitzt Jean-Paul Sartre mit am Tisch, »Der Ekel« steht Pate.
»Sicher ist«, schreibt Ammer, »hätte die Auster ein Auge, das uns in diesem Moment anblickt, der Mensch hätte sie nie verzehrt. Ich glaube mich im Moment, da ich den Mund öffne, um die Muschel bei lebendigem Leib zu verschlingen, von dieser unbeobachtet. Ich kann nicht glauben, dass die Auster mich ,erkannt’hat.«
Es ist an dieser Stelle schon oft die Reihe »Naturkunden«, im Matthes & Seitz Verlag von Judith Schalansky herausgegeben, in höchsten Tönen gelobt worden. Diese feinen, kleinen Bücher, in Zeiten der Massenware so herausragend gestaltet, dabei ohne Pomp und Selbstgefälligkeit, wären ein Grund, das Bücherregal gesondert auszubauen. Man würde einen Band neben dem anderen anordnen, sortieren, herausnehmen, hineinblättern und immer wieder - vor dem Schlafengehen - noch einmal das Licht anmachen, um der Bücherreihe eine gute Nacht zu wünschen. Und wenn man nun, da man die Tauben, Faultiere und den Hecht besprochen und noch ungleich mehr gelesen hat, die Austern in der Hand hält, erwartet man tatsächlich nicht viel. Was kann man schon schreiben? Über Austern? Harte Schale, weicher Kern, Arme-Leute-Essen, Sylt, Champagnerfrühstück. Wieviel Natur kann man in der Naturkunden-Reihe aus einer schnöden Muschel destilieren und zu einem (natur-)philosophischen Büchlein machen, das zu fesseln vermag?
Die Antwort fällt schon nach dem einleitenden Kapitel »Die Mollusken des Philosophen« nicht schwer: Es ist ein Buch, das man zur Hand nimmt, nicht mehr weglegt, Sartres Ekel abschüttelnd, bis zur letzten Zeile mit höchstem Gewinn zu Ende liest. Und hechelnd »Matthes & Seitz« im weltweiten Netz sucht, um zu schauen, was es sonst noch gibt - in den Naturkunden.
Kurzum: Andreas Ammer hat einen großartigen Beitrag zu einer wunderbaren Reihe geliefert - und füllt das vorangestellte Zitat von Friedrich Nietzsche auf 170 Seiten mit Leben: »Und viel Inwendiges am Menschen ist der Auster gleich, nämlich ekel und schlüpfrig und schwer faßlich.« Großartig.
Andreas Ammer: Austern. Ein Portrait. 170 Seiten. 22 Euro. Matthes & Seitz.