Großer Wunsch nach Sichtbarkeit

Mit gut erhaltenen Mauern und sogar alten Schriften hatte zunächst niemand gerechnet. Dies mache die Gießener Ausgrabung umso wertvoller, betont Archäologe Björn Keiner bei einer Führung.
Gießen . 1867 erbaut, 1938 von den Nationalsozialisten während der Novemberpogrome zerstört, verbrannt und sogar gesprengt: In der ehemaligen Synagoge im Zentrum Gießens fanden an den hohen jüdischen Feiertagen bis zu 500 Menschen einen Platz. Eine eigene Bibliothek hatte sie wohl - und separate Lehrräume. Ein Bauwerk, das die jüdische Gesellschaft in Gießen repräsentierte; mittendrin und gut vernetzt war sie, bevor der grausame Anschlag auf die drei Synagogen, zwei in der Steinstraße und die größte an der Südanlage, verübt und die Feuerwehr von den Faschisten aktiv am Löschen des Brandes gehindert wurde.
85 Jahre später, wurden die Überreste des ehemaligen Gotteshauses gefunden und freigelegt. Bei begleiteten Führungen konnte man nun einen ersten Blick auf die Überreste werfen und sich eine Meinung bilden, wie wohl mit solch einem Fund umgegangen werden sollte. Einige hatten bereits klare Vorstellungen.
Mit gut erhaltenen Mauern und sogar alten Schriften hatte zunächst niemand gerechnet. Dies mache die Ausgrabung umso wertvoller, so Björn Keiner, Stadtarchäologe und Leiter der Führungen. Was nun mit den Funden passiert, ist noch nicht klar. Als Ort des Gedenkens sollen sie langfristig für die Öffentlichkeit bereitgestellt werden, doch auf welche Weise ist noch umstritten, da sich die Kongresshalle im Bau befindet und eigentlich erweitert werden soll.
Die Meinungen von Teilnehmenden waren allerdings eindeutig: Die Fundstücke bewahren und so viel wie möglich ausgraben, um die Geschichte allen Menschen zugänglich zu machen. Stadtarchäologe Keiner erklärte, dass es ebenso eine Möglichkeit sei, weitere Ausgraben den Archäologinnen und Archäologen der Zukunft zu überlassen, denn mit besseren Technologien könne mehr freigelegt werden, ohne die Gemäuer zu beschädigen. Das stieß im Publikum auf Kritik, die Archäologie der Gegenwart würde damit diskreditiert.
Ein Drittel freigelegt
Ann-Christin Siebert hatte eine jüdische Pflegefamilie - der Pflegevater arbeitete in einer Synagoge. »Ich wünsche mir, dass dieser Ort verglast wird, sodass wir immer einen Blick darauf werfen können«, erzählt sie. Für sie sei die Geschichte mit vielen Emotionen verbunden, besonders aufgrund ihrer Familie. Bisher sei nur ein Drittel des gesamten Kellers freigelegt, beschreibt Björn Keiner. Ob es tatsächlich zu weiteren Ausgrabungen käme, sei ungewiss.
Anke Rinn, ebenfalls Besucherin der Führung auf dem Gelände der Kongresshalle, hält das Vorgehen der Stadt für richtig, schließlich müsse man mit Ausgrabungen vorsichtig sein, um nichts zu zerstören. »Ich finde es bemerkenswert, dass die Synagoge nun ausgegraben wurde und vor allem, dass so viele Menschen hier sind, um es sich anzusehen«, bekundete sie und lobte ebenso die Einbindung der jüdischen Gemeinde in das Projekt der Ausgrabung. Dies empfand sie als besonders wichtig und richtig.
Barbara Alt betonte hingegen die Dokumentation für die Nachwelt sowie die Aufarbeitung der Historie. Besonders für jüngere Menschen sei es wichtig, viel über den Nationalsozialismus zu erfahren, damit so etwas auf keinen Fall wieder passiere: »Wir müssen das sichtbar machen - viel steht ja schon auf der Homepage der Stadt. Das ist sehr gut, so bekommt das Thema mehr Aufmerksamkeit.«
Björn Keiner verriet, dass schon zahlreiche Schulklassen angefragt hätten, ob eine Exkursion im Rahmen des Politik- oder Religionsunterrichts möglich sei. Natürlich solle auch dies umgesetzt werden, doch diese Planung hänge zurzeit in der Schwebe. Die wichtige Ausgrabung, gepaart mit den Erzählungen von Björn Keiner, lösten Emotionen aus. Entsetzen und Wut über die Taten der Nationalsozialisten, aber auch ein wenig Freude darüber, dass es nun die Möglichkeit gibt, die Synagoge zu sehen, sie nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, und vor allem: Ein wichtiges Stück Geschichte zu bewahren.
Weitere Besichtigungen werden am Sonntag, 12. März, um 11 Uhr und um 13 Uhr möglich sein. Treffpunkt ist der Haupteingang der Kongresshalle. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich.