Hausärzte sind stinksauer

Niedergelassene Mediziner und ihre Angestellten haben gestern in der Gießener Innenstadt demonstriert.
Gießen . Die Zeiten, in denen Ärzte noch als »Götter in Weiß« je nach Gusto gepriesen oder geschmäht wurden, sind vorbei. Gerade für niedergelassene Mediziner werden die Arbeitsbedingungen immer schlechter und der klassische Hausarzt zum Auslaufmodell. Gegen immer neue »bürokratische Zumutungen« und Nullrunden bei der Entlohnung in Zeiten galoppierender Inflation machten am Mittwoch rund 150 Ärzte und medizinische Fachangestellte mobil. Gegen 10 Uhr zogen sie vom Bahnhof durch den Seltersweg zur Abschlusskundgebung am Kugelbrunnen, um ihren Unmut kundzutun, aber auch um die Passanten, die ja alle auch Patienten sind, über ihre Forderungen aufzuklären. Deshalb blieben gestern viele Praxen geschlossen. Und so wie die Stimmung unter den Demonstranten war, könnte sich das auch wiederholen.
Eines der Hauptärgernisse der niedergelassenen Ärzte, das sie auch mit ihren Kollegen in den Krankenhäusern teilen, scheint die zunehmende Bürokratie im Allgemeinen und der elektronische Krankenschein im Besonderen zu sein. Zahlreiche Demonstranten berichteten im Gespräch über ständige Abstürze des Systems, das aber auch schon im Normalbetrieb viel Zeit fresse, die dann für die Patienten fehle. Allein die Übermittlung einer elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) über die sogenannten Konnektor-Terminals an die Krankenkassen dauere 35 bis 40 Sekunden, rechnet der hausärztliche Internist Martin Bayer aus Wettenberg vor. »Bei rund 60 eAU pro Tag in meiner Praxis können Sie sich ausrechnen, wie viel Zeit dafür verloren geht.«
Intransparent, teuer
Die Ärzte klagen auch über das intransparente und teure Verfahren, mit dem die eAU umgesetzt werde. Die Konnektoren dürfen nur bei lizenzierten Herstellern erworben werden. Nach spätestens fünf Jahren würden die Sicherheitszertifikate für diese Computer erlöschen. Danach müssten diese zwingend durch neue Geräte ersetzt werden, obwohl der Chaos Computer Club nachgewiesen habe, dass sich die Zertifikate auch kostengünstig durch Softwareupdates aktualisieren ließen. »Da entstehen immense Kosten und sinnlose Berge an Elektroschrott«, schimpft Bayer.
Generell führten auch die wachsenden Ausgaben für immer mehr Patienten bei schrumpfenden Einnahmen durch die Beiträge der Versicherten zu einem wachsenden Klima des Misstrauens zwischen den Krankenkassen und den Ärzten, meint Julian Duncker, Hausarzt aus Biebertal. »Wenn ich zum Beispiel in meiner Praxis mehr Physiotherapien verschreibe, als die Ärzte im Kassendurchschnitt, kann es mir passieren, dass ich 18 Monate später bei der Krankenkasse in jedem einzelnen Fall die medizinische Notwendigkeit dieser Maßnahme nachweisen muss, ansonsten verweigert sie die Kostenübernahme.«
Dass die Krankenkassen für die nächsten beiden Jahre bei den Ärztehonoraren Nullrunden angekündigt haben, trägt angesichts hoher Inflation und steigender Personalkosten auch nicht dazu bei, den Hausarztberuf attraktiver zu machen, ergänzt Britta Michaelsen von der Praxis Heckrodt in Niederkleen. Da sei es dann auch nicht verwunderlich, dass viele Landarztpraxen keine Nachfolger mehr finden würden und die Wege für die Patienten auf dem Land zum nächsten Arzt immer länger würden.
Zuviel Bürokratie
Nun könnte man ja argumentieren, dass der Trend immer mehr zum Ärztehaus gehe, wo gleich mehrere angestellte Ärzte unter einem Dach praktizieren würden. Doch diesen Einwand lassen Thomas Rietdijk und Suzan Wiedemann, die ihre Praxen in Gießen haben, nicht gelten. »Da geht jeder ganzheitliche Ansatz verloren und aus dem Patienten wird dann wieder »das Knie« oder »das Herz«, die anonym therapiert würden«, sagt Rietdijk. »Zu uns kommen oft ganze Familien. Da entsteht über Jahre ein Vertrauensverhältnis, das ein Ärztehaus mit wechselnden Fachkräften gar nicht bieten kann«, fügt Wiedemann hinzu. Der Hausarzt müsse aber eine Vertrauensperson und die erste Instanz sein, die einen Patienten im gegebenen Fall auch sinnvoll weiterleite. Wenn diese Instanz ausfalle, würden Notaufnahmen in Zukunft noch häufiger mit Patienten belastet, die dort gar nicht hingehörten.
Dass Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach auf den immer größer werdenden Mangel an Landärzten mit der Einführung sogenannter »Gesundheitskioske« reagieren will, in denen auch nicht-ärztliches Personal eingesetzt werden kann, sorgt bei den demonstrierenden Ärzten für besondere Empörung. Das sei eine Missachtung von Ärzten und Patienten gleichermaßen, die möglichst kostensparend ein Loch stopfen soll, das erst von einer verfehlten Gesundheitspolitik aufgerissen worden sei.
Auch Wiedemann beklagt die zunehmenden Dokumentationspflichten, die die Krankenkassen einfordern würden. »Ich sitze eine Stunde vor Sprechstundenbeginn und eine danach noch im Büro, und auch noch zwei Stunden am Wochenende. Dafür bin ich aber doch nicht Ärztin geworden.«