Heiteres Knochenraten im »Grünen Kranz«

Gießen . Haben Sie gewusst, dass in Gießen Studenten aus Protest gegen die Sperrstunde ihre eigene Hinterzimmer-Kneipe aufmachten, um auch nach 1 Uhr weiterzuzechen? Wussten Sie, dass dort, wo heute in der Neuen Bäue ein amerikanischer Burger-Brater seinen Gourmet-Tempel betreibt, Elvis einmal ein Bier getrunken hat und die kleine Romy Schneider hoffentlich noch nicht?
Nein? Dann können Sie diese Bildungslücken ab sofort bei einem neuen Stadtrundgang der Gießen Marketing GmbH schließen. Seit Donnerstag gibt es jetzt eine offizielle »Kneipentour für Studierende«. Und auch wenn es heute nicht mehr wie einst 323 Kneipen in Gießen gibt, bleibt noch immer viel zu entdecken und zu trinken in unserer Stadt.
»Strolch-Bier«
Eine bunt gemischte Truppe von rund 20 Teilnehmern hatte sich zur Premiere vor dem Alten Schloss versammelt. Unter der kundigen Führung eines Gießener Originals, dem Comic-Zeichner, Shanty-Sänger und Buchautor Andreas Eikenroth, wanderte man drei Stunden lang auf den Spuren der Gießener Gastronomie, die zugleich auch die »Geschichte der kleinen Leute«, eine Historie von unten, ist.
Zur Marschverpflegung für jeden Teilnehmer gehörten ein Gutschein für einen Cocktail und eine Club-Party mit DJ am selben Abend im Alten Schloss sowie eine Flasche Schlammbeiser-Bier. Was Eikenroth aber gleich als Etikettenschwindel entlarvte. Dieses »Strolch-Bier« komme nämlich aus Lauterbach. Gießens lange Brauereigeschichte sei leider 2015 mit der Schließung der Privatbrauerei Gießen zu Ende gegangen. Auch in der ersten Traditionsgaststätte, an der man am Kanzleiberg vorbei kam, wird heute kein Bier mehr getrunken, sondern Shisha geraucht. Da, wo jetzt die Wasserpfeifen qualmen, wurde auch früher schon beim »Lohntüten-Ball« Dampf abgelassen. Regelmäßig sei es dort zu Auseinandersetzungen zwischen wütenden Ehefrauen und deren Männern gekommen, weil diese ihren Wochenlohn nicht zu Hause ablieferten, sondern in der »Marktschänke« durchbrachten, wusste Eikenroth.
Ein paar Meter weiter in der Schulstraße habe es mit dem »Bierbrunnen« eine weitere Malocher-Kneipe gegeben, in der inzwischen Pizza und Gyros serviert werden. Und schräg gegenüber an der Ecke zur Sonnenstraße war der »Place to be« der 1950er Jahre, die Milchbar. Dort konnten junge Leute, damals Halbstarke genannt, nicht nur am »American way of Life« schnuppern, sondern auch kurz dem Mief der Nachkriegsjahre entfliehen. Alkohol gab es in der Milchbar nicht, aber etwas anderes, was damals besorgten Eltern nicht minder graue Haare bescherte: die ersten Juke-Boxen mit »Beat-Musik« aus Übersee.
Der wohl größte Held der Nachkriegs-Teenager hat weiter unten in der Neuen Bäue einmal ein Bier an einem geschichtsträchtigen Ort getrunken, der zeitweise »Café Ernst Ludwig«, »Alt Gießen«, »Corner Club«, »Bristol Club« oder »Oldtimerclub« hieß. Wo längst McDonalds Fritten und paniertes Hähnchenfleisch kredenzt, war einst ein Wintergarten, in dem Livebands spielten, Elvis aber leider nicht, der war zu dieser Zeit ja bekanntlich Rockstar außer Dienst und Soldat in Bad Nauheim. Zeitweiliger Besitzer dieses Lokals war übrigens auch einmal ein gewisser Hans Herbert Blatzheim, seines Zeichens Großgastronom, Ehemann von Magda Schneider und damit Stiefvater von unser allerliebsten Leindwandkaiserin Sisi.
Auch wenn diese Fakten alles andere als trocken waren, plagte die Teilnehmer der neuen Stadtführung nicht nur der Wissensdurst. »Keine Sorge, wir kommen auch noch zu Kneipen, die es noch gibt«, beruhigte Eikenroth. Deren erste war das »KaWe«: einst »Kaiser Wilhelm«, heute »Kaffee Wolkenlos«. Den alten Namen habe sein Betreiber gewählt, weil der bastelwütige Besitzer aus alten Möbeln eine unverwechselbare Einrichtung geschaffen habe, die den Flair der »guten alten Zeit« atmet. So besteht die Deckenverkleidung aus originalen Zigarrenrollbrettern - Überbleibsel der einst in Gießen großen Zigarrenfertigung. Dagegen ätzte der notorisch progressive Asta und der Beifall kam von der falschen Seite. Als immer öfter Burschenschaftler »im vollen Wichs« mit Säbel im »KaWe« einkehrten, wurde aus dem »Wilhelm« das »Wolkenlos«.
Morgenbier
Nicht weit davon entfernt erinnerte Eikenroth an den »Gießener Beethoven«: Toni Hämmerle hat zwar keine neunte Symphonie geschrieben, dafür aber »Humba Humba Täterää« (wenn man so will, die hessische Übersetzung von »Freude schöner Götterfunken«). »Zwischen dem Stromkasten und der Mülltonne hat der Toni immer aus seinem Fenster geguckt«, erläuterte Eikenroth, bevor man in eine Traditionskneipe in einem der vom Bombenhagel verschonten Altstadtgässchen einkehrte, den »Grünen Kranz« in der Bruchstraße. Dort berichtete der Stadtführer von seinen Gesprächen mit der Enkelin des Gründers, die aus erster Hand vom harten Leben eines Gastwirts vor hundert Jahren erzählt habe. Um 8.30 Uhr habe der Opa für die Möbelkutscher geöffnet, die ihr Morgenbier wollten. Dann seien die Rentner und Studenten zum Skatspielen gekommen und abends zum Schluss noch die Orchestermusiker vom Stadttheater bis zur Sperrstunde um 1 Uhr nachts - und das sieben Tage in der Woche. Man sieht: Das Wort Work-Life-Balance war damals noch unbekannt. Dafür habe ein Dr. Rosenkranz aus der Anatomie die Gäste mit frischen Präparaten zum heiteren »Knochenraten« eingeladen.
Vieles gab es noch zu berichten und zu besichtigen: vom »Ascot« über das »Le Mans«, die »Schnitzel-Oma«, das »Klimbim«, die »Zwibbel«, das »Bel Ami« und die »Romantica-Bar« bis hin zum »Scarabée«, bevor man schließlich im »Sowieso« in der Liebigstraße den offiziellen Teil der Stadtführung abschloss.
Gesellig und laut
Und dort zeigte sich eindrucksvoll, warum das Konzept »Kneipe« trotz Corona oder Netflix einfach nicht totzukriegen ist. Während die bunt zusammengewürfelte Truppe, von der kolumbianischen Lebensmittelchemikerin über echte Schlammbeiser und 46ers-Mitarbeiter bis hin zu Umweltmanagement-Studentinnen aus dem ganzen Bundesgebiet sich im »KaWe« noch vor allem mit ihren Handys beschäftigte, wurde es im »Sowieso« mit jeder Stunde geselliger und lauter. Die Gutscheine für den Club-Abend mit Caipirinha blieben jedenfalls ungenutzt.
Wer jetzt auf den Geschmack gekommen ist: Kurz vor den Sommerferien und zum Start des Herbstsemesters wird es die nächsten Kneipentouren geben. Andreas Eikenroth schreibt derweil an einem Buch über die Geschichte der Gießener Kneipen. »Das wird ein Porträt einer Welt, die rauer war, nicht so politisch korrekt aber auch spannender.«