Hier gab man sich die Kugel

In der Reihe Ortskritik widmen wir uns diesmal einem Untoten des Gießener Stadtraums: dem Kaugummiautomaten. Ob er wohl noch funktioniert?
Gießen. Der Kaugummiautomat ist ein eigentümliches, kaum zu durchdringendes Phänomen: Er führt eine Existenz als Zombie, als Untoter im Leben des sonst so lauten und hektischen Stadtraums. Alt und verwittert, von den Zeichen der Zeit malträtiert, stumm und klaglos die Weltenläufte betrachtend, hängt er mal hier, mal da herum, während ihn doch niemand mehr wahrzunehmen scheint. Falls für den einen oder die andere noch eine Verbindung zu diesem meist rot-weiß-zerkratzten Blechkasten besteht, so führt sie weit zurück in längst verblasste Kindheiten des 20. Jahrhunderts. Und doch gibt es den Kaugummiautomaten noch immer. Ihm ist diese Ortskritik gewidmet, die ausnahmsweise sogar an gleich drei Gießener Orte führt.
Vom Groschengrab zum Zombie
Der erste ist der Riegelpfad, unmittelbar vor der Unterführung in Richtung Stephanstraße. Hier, direkt gegenüber vom »Bierhaus Klimbim«, wurde irgendwann einmal einer dieser Blechkästen montiert, um Kindern die Groschen (so hieß das damals) aus den Taschen zu ziehen. Doch wo manch ein Schüler früher vielleicht stehenblieb, um eine Münze im Schlitz zu versenken und von leckeren Süßigkeiten und kostbaren Plastikschätzen zu träumen, ist der Kasten heute zum Detail einer weit größeren Stadtraum-Plastik geworden.
Rein optisch ist das ein reizvolles Gebilde: Ein Schildermast, ein Stromkasten und der Automat fügen sich in dieser Szenerie perfekt zu einer Einheit zusammen. Allesamt beklebt und besprüht, und damit die schummrige Fußgängerpassage markierend, die ebenfalls von den Zeichen einer rebellierenden Jugend gestaltet wurde. Ein paar Zigaretten wurden auf dem Automatendeckel ausgedrückt, ein paar Parolen an seinen Seiten platziert, mit Filzstift oder per Aufkleber. Alles ist vergänglich, scheint die Botschaft zu lauten. Einen anderen Sinn dürfte dieses obskure Objekt vergangener Begierden nicht mehr haben. Oder mag sich irgendwer vorstellen, dass ein heiterer Nachtschwärmer mit leicht beduseltem Kopf kurz Halt macht, um sich hier eine klebrige Kleinigkeit zu gönnen?
Viel schlimmer aber hat das Schicksal dem Blech-Kollegen in der Alfred-Bock-Straße mitgespielt. Auch hier wurde er an einer Unterführung platziert, vielleicht in der irrigen Annahme des unbekannten Betreibers, dass an einer Unterführung langsamer gelaufen wird. Zielgruppe waren wohl auch an diesem Ort Jugendliche, auf dem Weg zur Ostschule, die als Kundschaft ins Visier genommen wurden. Das hat wohl nicht funktioniert. Gestrüpp hat den Kasten schon halb überwuchert. Zudem wurden die Plastikfenster der drei Ausgabeschlitze allesamt mit schwarzer Farbe übermalt. Eher würden Schüler wohl freiwillig ihren Lehrern die Tasche in den Klassenraum tragen, als hier jemals eine Münze zu versenken.
Und so drängt sich die Frage auf, wer überhaupt für den Betrieb dieser Geräte zuständig ist. Wer hat je beobachtet, wie sie befüllt wurden? Wer je gesehen, wie ein offiziell aussehender Mitarbeiter das Kleingeld aus ihnen herausgefischt hat? Vielleicht wurden diese Automaten also nicht nur von der vermeintlichen Kundschaft veressen, sondern auch von ihren Besitzern, die mit anderen Arbeiten so viel zu tun hatten, dass ihnen dieses schmale Zusatzgeschäft einfach aus dem Gedächtnis geriet?
Andererseits: schwer vorstellbar. Auch wegen des dritten Automaten, der für diese Ortskritik studiert wurde. Er steht in der engen Moltkestraße, unweit der vielbefahrenen Grünberger Straße, und fristet auf andere, ganz eigene Weise die Existenz eines Untoten. Hier laufen so wenige Menschen vorbei, dass er nicht einmal für kleinste Zerstörungsaktionen in Betracht gezogen wurde. Der Kasten hat, trotz seiner vermutlich zahlreichen Lebensjahre, die Form einigermaßen bewahren können. Keine Rußflecken, kaum Dellen, sogar die rot-weiße Farbe hat hier noch einen Schimmer Kraft. Also wagen wir den Versuch und schmeißen je eine Münze in die drei Schlitze. Dann noch die schwarzen Hebel mit den Zahnrädern umdrehen, und schon klickert und klackert es aus den Ausgabeschlitzen. Zum Vorschein kommen tatsächlich zwei Kaugummikugeln, sowie ein seltsames Plastiktier aus fernöstlicher Produktion. Keine Frage: dieser Untote lebt noch immer!
In der Reihe »Kritik des Ortes« widmen sich Rüdiger Dittrich und Björn Gauges in unregelmäßigen Folgen besonderen, aber nicht unbedingt besonders schönen Orten, die in Gießen zu entdecken sind.
