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»Ich beneide die Selbstständigen«

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1990 hat er als Richter hier begonnen, nun steht sein letzter Arbeitstag am Sozialgericht vor der Tür: Direktor Bernd Grüner geht in den Ruhestand. Foto: Pfeiffer © Pfeiffer

Hartz IV hat für eine Klagewelle gesorgt, Corona dagegen für eine Delle: Nach 19 Jahren als Direktor am Sozialgericht in Gießen geht Bernd Grüner in den Ruhestand

Gießen . Beinahe versteckt und im Vergleich zum benachbarten Landgericht reichlich schmucklos kommt es daher: Das Sozialgericht an der Ostanlage. 1990 hat Bernd Grüner hier als Richter begonnen, 2003 wurde er nach einem Zwischenstopp am Landessozialgericht in Darmstadt Direktor. Nun geht er in den Ruhestand. Über zu wenig Arbeit konnten er und seine Kolleginnen und Kollegen sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht beklagen - im Gegenteil.

»Als ich als Direktor angefangen habe, hatten wir pro Jahr rund 2800 Klageeingänge«, erzählt er im Pressegespräch. Dann kam Hartz IV - und damit nicht nur die Kritik an den Leistungen, sondern auch ein deutlicher Anstieg der Prozesse. Den Höhepunkt habe diese Welle 2010/2011 mit rund 4700 Klagen jährlich erreicht.

Klagewelle durch Hartz IV

Das Problem seien die »vielen unbestimmten Rechtsbegriffe« seitens des Gesetzgebers. Beispiel Wohnen: Das Jobcenter kommt für die Kosten der Unterkunft und Heizung auf, sofern diese »angemessen« sind. Ob das der Fall ist, wird jedoch immer im Einzelfall entschieden. Wer zu großzügig wohnt oder wessen Miete zu hoch ist, dem droht gegebenenfalls ein Umzug. »Gerade in einer Universitätsstadt wie Gießen, wo die preiswerten Wohnungen an Studierende gehen, ist das ein Problem. Die Menschen finden schlichtweg nichts.«

Der grundsätzlichen Kritik an Hartz IV will sich der scheidende Direktor nicht anschließen. Die Leistungen seien »besser als vorher über die Sozialhilfe«. Beschweren könnten sich diejenigen, die Arbeitslosengeld beziehen: »Dort ist gekürzt worden.« Das Prinzip »Fördern und Fordern«, wonach Arbeitslose bei der Suche nach einem neuen Job unterstützt werden sollen, ihnen aber auch Sanktionen drohen, habe jedoch mitunter wenig gebracht. »Teils sehen wir bei unserer Arbeit immer noch die gleichen Namen wie 2005«, sagt Grüner mit Blick auf Langzeit-Hartz-IV-Bezieher.

Die Flüchtlingskrise 2015 habe sich erst 2021 merklich auf das Sozialgericht ausgewirkt, sagt Grüners Stellvertreter, Richter Dr. Robert Horn. Denn ob Ansprüche bestehen, entscheidet im Zweifel zunächst das Verwaltungsgericht - das Sozialgericht hingegen über die Höhe der Ansprüche.

»Wir haben praktisch noch keine Berührungen mit Geflüchteten aus der Ukraine«, berichtet Grüner. Das zeige, dass deren Leistungen offenbar problemlos gewährt würden. Seit Juni können sie Hartz IV beantragen und bekommen so mehr Geld, als nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Grüner sieht das kritisch: »Dass wir anfangen, nach Herkunftsland über die Höhe zu entscheiden, halte ich für gefährlich.«

Während der Corona-Pandemie ging die Zahl der Klagen am Sozialgericht, das neben dem Landkreis Gießen auch für den Lahn-Dill-Kreis sowie den Wetteraukreis zuständig ist, merklich zurück, 2021 hatte es laut Grüner rund 3000 Verfahren gegeben. »Über diese Verschnaufpause waren wir froh« - gab sie doch Zeit, die Masse älterer Klagen abzuarbeiten.

Diese »pandemiebedingte Delle« liege vor allem daran, dass viele Leistungen pauschal gewährt wurden. Während Pflegebedürftige ihre Ansprüche etwa nach einer Begutachtung erhalten, wurden sie während der Pandemie anhand ärztlicher Gutachten berechnet. Grüner fürchtet, dass es hier nachträglich zu einer Klagewelle kommen könnte.

Um nicht nur die Gerichte, sondern auch die Bürger zu entlasten, könnten weniger komplexe Vorschriften helfen, findet der Jurist. »Selbst wer nur einen kleinen Kiosk betreibt, kommt heute nicht mehr ohne Steuerberater aus«, hat er festgestellt.

Neben der Zahl der Klagen stieg während Grüners Amtszeit auch die Zahl der Richter: 2003 waren am Sozialgericht acht Richter tätig, heute sind es 13. Drei davon sind in Teilzeit tätig - auch das habe sich in den vergangenen Jahren geändert.

230 Ehrenamtliche

Für ein Urteil am Sozialgericht sind zudem jeweils zwei ehrenamtliche Richter notwendig. Von ihnen gibt es rund 230 an der Zahl. Doch während die Ehrenamtlichen früher jahrzehntelang im Dienst gewesen seien - »Schlammbeiser« Axel Pfeffer beispielsweise hat es auf sage und schreibe 50 Jahre geschafft - hörten sie heute oft bereits nach ein oder zwei Wahlperioden auf.

Am heutigen Donnerstag ist Grüners letzter Arbeitstag am Sozialgericht. Bis die Nachfolge geregelt ist (»Ich bin guten Mutes, dass die Stelle in zwei Monaten neu besetzt ist«), übernimmt sein Stellvertreter Horn die Aufgaben. Übermäßig viel Freizeit für seine Hobbies - darunter Tennis und Basketball - dürfte Grüner aber auch im Ruhestand nicht haben. Denn der Jurist will weiterhin bei zwei Schiedsstellen aktiv sein und Fortbildungen anbieten. »Ich beneide die Selbstständigen. Sie können langsam zurückfahren, im öffentlichen Dienst geht es von 100 auf null.«

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