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»Ich bin dabei« ist nicht mehr dabei

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Von: Ingo Berghöfer

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Die EUTB-Beratungsstelle ist zurzeit noch in der Rödgener Straße 76 untergebracht. Ob das so bleibt, ist ungewiss. Foto: Schäfer © Schäfer

Die Gießener EUTB-Beratungsstelle für Menschen mit Handicap wechselt zum 1. Januar den Träger. Das sorgt für Enttäuschung und Verdruss. Die bisherige Erfahrung werde einfach »ignoriert«.

Gießen . Seit 2018 unterstützt und berät die Ergänzende Unabhängige Teilhabeberatung (EUTB) des Trägervereins »Ich bin dabei« Menschen mit Behinderung oder drohender Behinderung sowie deren Angehörige. Wie im Bundesteilhabegesetz vorgesehen, soll den Betroffenen so ermöglicht werden, ein weitgehend selbstbestimmtes Leben zu führen. Doch dieser Aufgabe darf der Verein ab 2023 nicht mehr nachkommen - und das sorgt bei den Verantwortlichen für Unverständnis und Verdruss.

Obwohl die gemeinnützigen Trägervereine keine Gewinne erwirtschaften dürfen und die Vereinsvorstände ehrenamtlich arbeiten, kostet auch ein kostenloses, unabhängiges Beratungsangebot Geld. Die Einrichtungen der EUTB werden deshalb jedes Jahr vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales mit rund 60 Millionen Euro gefördert. Und damit dieses Geld sinnvoll eingesetzt wird, überprüft die Gesellschaft für soziale Unternehmensberatung (»gsub«) alle zwei Jahre die Trägervereine.

Die Trägerschaft von »Ich bin dabei« war bislang immer eine Formsache. Doch just ab 2023, dem Jahr, in dem die EUTB ihren Projektcharakter verlieren und auf eine Regelfinanzierung umgestellt werden, wechselt der Trägerverein für die Gießener Beratungsstelle. Dann wird die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) die hiesige EUTB neben sieben weiteren der 39 hessischen Beratungsstellen übernehmen und damit zum größten Anbieter im ganzen Bundesland avancieren.

»Erfahrung ignoriert«

Diese Entscheidung hat Martina Ertel, die Vorsitzende des Trägervereins, und ihren Stellvertreter Sven Germann nicht nur überrascht, sondern auch sichtlich getroffen. Erst Mitte September haben sie erfahren, dass ihr Verein seine Tätigkeit zum Jahresende einstellen muss.

350 Menschen nutzten im Schnitt pro Jahr das Angebot der EUTB, sagt Ertel, und der Bedarf wächst. In diesem Jahr waren es bis Anfang November schon 450 behinderte Bürgerinnen und Bürger oder Angehörige, die in Gießen Rat suchten. »Wir bieten hier Beratung, keine Betreuung«, betont Ertel. Die EUTB sei ein unabhängiges und niedrigschwelliges Angebot, das die Selbstständigkeit der Betroffenen fördern soll.

Schon im Interesse der drei Mitarbeiter wolle man die aus Sicht des Vereins nicht nachvollziehbare Entscheidung nicht klaglos hinnehmen und habe gegen diese beim zuständigen Verwaltungsgericht Berlin Widerspruch eingelegt. »Unsere mit den Jahren gewonnene Erfahrung hat bei dieser Entscheidung offenbar keine Rolle gespielt«, bedauert Germann. Man hört die Bitterkeit, die in diesen Worten mitschwingt. Derzeit überlege der Vorstand, ob Klage eingereicht werden soll. Dazu wird Prozesskostenbeihilfe benötigt, denn als gemeinnütziger Verein hat man natürlich keine Rücklagen. Dass sich durch eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Berlin die Neuvergabe revidieren lässt, hält Germann indes für unwahrscheinlich. »Unsere Mitarbeiter sind bis dahin so oder so weg.«

Germann sieht einen Verstoß gegen die Prinzipien des Bundesteilhabegesetzes. Darin werde die Unabhängigkeit der Beratungsstellen herausgestellt. Die könne ein kleiner Verein besser garantieren als ein großer Verband wie die DMSG, die in der Region gar nicht verwurzelt sei. »Regionalität und unabhängige Beratung bleiben auf der Strecke«.

Enttäuscht ist er auch von der hessischen Landesregierung. Die Erwartung des Teilhabegesetzes sei klar gewesen: Das jeweilige Bundesland solle sich einbringen, die Landesregierung habe sich in Hessen aber aus der Entscheidungsfindung herausgehalten, ganz im Gegensatz zum Beispiel zu Nordrhein-Westfalen, wo das Land vorgegeben habe, gewachsene Strukturen zu halten und unnötige Wechsel zu vermeiden.

Die DMSG sei hier vor Ort bislang kaum in Erscheinung getreten, habe nun aber für Gießen gleich zwei Standorte angemeldet. »Da können wir nicht mithalten, aber zwei Büros brauchen wir auch nicht«, sagt Martina Ertel. Inhaltliche Kritik an der eigenen Beratungsarbeit habe sie nie gehört, betont sie. Die Beratung sei effizient und die Zahlen seien gut.

Besonders ärgerlich sei, wie viel Vertrauen und Kompetenz jetzt verloren gehe. Germann: »Wir haben am Anfang viele Klinken geputzt und uns dann allmählich mit den zahlreichen Selbsthilfegruppen, Trägern und Entscheidern vernetzt. Da geht viel Kompetenz verloren.«

Bereits am 15. Dezember sei nun »Schicht im Schacht«, weil die drei in Teilzeit beschäftigten Mitarbeiter noch Resturlaub abbauen müssen, bevor ihre Arbeitsverträge zum 31. Dezember auslaufen. Leidtragende seien aber vor allem die Betroffenen, denn nach den zwei Wochen im Niemandsland Ende Dezember, in denen sich Ratsuchende nur an die EUTB in Marburg wenden können, müssten sie sich im neuen Jahr an neue Adressen und Telefonnummern gewöhnen.

Verhärtete Fronten

Ganz anders bewertet naturgemäß Benno Rehn, Geschäftsführer der Multiple Sklerose Gesellschaft Hessen, den Zuschlag für seine Selbsthilfegruppe. Er betont, dass die Grundlage für die Erteilung der EUTB ein bundesweites, standardisiertes Ausschreibeverfahren sei. In diesem sei geregelt, dass die Beratungsstellen unabhängig von den Leistungsträger sein müssten. Formal sei das durch den unabhängigen Trägerverein »Ich bin dabei« bislang auch gewährleistet gewesen. Dass aber Mitglieder wie Maren Müller-Erichsen und Martina Ertel durch ihre Tätigkeiten in der Lebenshilfe Doppelpositionen innehätten, sei von den Entscheidern im Ministerium berücksichtigt worden. Um die Unabhängigkeit der Beratungsstellen sicherzustellen, gebe es eine klare Rangfolge, bei der unabhängige Bewerber wie die Selbsthilfeeinrichtung DMSG den Vorrang vor Anbietern mit Mandatsdopplung hätten.

Die Multiple Sklerose Gesellschaft sieht Rehn durch die lange Arbeit mit unterschiedlich beeinträchtigten Menschen gut gerüstet für die neue Aufgabe. Er betont auch, dass man vonseiten der DMSG gesprächsbereit sei. Im Moment sei es aber zugegebenermaßen schwierig, mit dem alten Anbieter zu kommunizieren. Er sagt auch, dass man dem alten Trägerverein angeboten habe, sowohl die alten Mitarbeiter zu übernehmen als auch die Räumlichkeiten zu behalten. »Wir haben ein hohes Interesse an Kontinuität.« Leider sei die Position bei »Ich bin dabei« im Augenblick eher verhärtet.

Sollte es zu keiner Einigung über eine Fortführung der Beratungsstelle in der Rödgener Straße kommen, habe man bereits ein neues Objekt in Aussicht. Auf alle Fälle sei man zur Zusammenarbeit mit allen Selbsthilfegruppen bereit. Eine Sprecherin des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) erklärte auf Anfrage: Ziel des Gesetzes sei es, Betroffenen eine ergänzende und »von Leistungsträgern und Leistungserbringern unabhängige« Teilhabeberatung zu bieten. Mit dem Wechsel zum Regelbetrieb ende auch die bisherige Projektfinanzierung. Die zuwendungsrechtliche Förderung werde umgestellt auf einen Rechtsanspruch auf einen Zuschuss für Personal- und Sachkosten.

Die Antragsprüfung und Bewilligung verlaufe in einem mehrstufigen Verfahren. Neben der Trägereigenschaft und Zuverlässigkeit werde auch die konkrete Umsetzung sowie Professionalität und Qualifikation der EUTB-Angebote unter Beachtung bundeseinheitlicher Kriterien geprüft. Dabei ließen sich Änderungen der Trägerstrukturen nicht vermeiden, so die Sprecherin. »Neue Träger kommen hinzu, teils konnten sich bisherige Träger im Zuteilungsverfahren gegenüber der Konkurrenz nicht durchsetzen.«

Kein Bestandsschutz

Das Antrags- und Bewilligungsverfahren sei sorgfältig vorbereitet worden. Die Verbände seien frühzeitig an dessen Entwicklung beteiligt gewesen und hätten dabei die Gelegenheit der Stellungnahme zum Verordnungsentwurf gehabt.

Ein Bestandsschutz für bereits geförderte Beratungsangebote werde nicht gewährt, da er zu einer Privilegierung bestehender Angebote und Ungleichbehandlung neuer Antragsteller führen würde. Zudem würde dies die Qualitätsentwicklung der Beratungsangebote erschweren.

»Aufgrund der hohen Anzahl von Anträgen und der damit verbundenen Überzeichnung der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel musste eine sachgerechte Auswahl unter den Antragstellern getroffen werden.« Man habe aber die notwendigen Kriterien, die einen transparenten und wirtschaftlichen Einsatz der Mittel ermöglichen, angewandt.

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