»Ich hatte Todesangst«

49-jährige Frau sagt im Prozess gegen vorbestraften Vergewaltiger aus.
Gießen. Mit leiser, ruhiger Stimme spricht die 49-jährige Gießenerin, die auf der Zeugenbank vor der Siebten Großen Strafkammer am Gießener Landgericht Platz genommen hat. Neben ihr sitzt ein Vertreter der Opfer- und Zeugenberatung »Gießener Hilfe« und leistet ihr Beistand. Die zierliche dunkelhaarige Frau berichtet von einer Vergewaltigung, die ihr im vergangenen Juli widerfahren sein soll. Der mutmaßliche Täter ist ihr damaliger Nachbar.
Rund eine Woche vor der Tat im Juli 2022 hatten sich die beiden gerade erst näher kennengelernt, tranken gemeinsam Kaffee, tauschten bald Handynummern aus. Es entspann sich ein loser sexueller Kontakt. »Das war alles einvernehmlich«, wie die Frau vor Gericht erzählt.
Alkohol und Drogen
Dass der Mann ein vorbestrafter Sexualstraftäter ist, weiß sie damals nicht. Der Angeklagte, heute 33 Jahre alt, saß wegen Vergewaltigung bereits vier Jahre im Gefängnis. Seit er wieder auf freiem Fuß ist, soll er sich nicht nur an der 49-Jährigen vergangen, sondern auch eine weitere Frau aus Staufenberg zum Geschlechtsverkehr gezwungen haben. Bei beiden Taten soll der Angeklagte unter Alkohol- und teils auch unter Drogeneinfluss gestanden haben.
Den Geschlechtsverkehr bezeichnet die Frau als »zärtlich und keinesfalls als brutal oder heftig«. Der Angeklagte hatte am ersten Verhandlungstag (der Anzeiger berichtete) ausgesagt, dass die Frau »dominant gewesen sei« und »Dinge gewollt« habe, die er nur aus Pornofilmen kannte. Am Abend des 23. Juli 2022 trafen sich die beiden dann bei ihm in der Wohnung. »Er hat uns eine Matratze auf den Balkon gelegt, damit wir gemeinsam unter den Sternen einschlafen können - ich fand die Vorstellung romantisch«, sagt die Zeugin. Nach einem gemeinsamen Essen und dem Anschauen eines Films habe sich allmählich die Situation geändert. »Wir saßen anschließend auf dem Balkon und redeten.« Allerdings sei der Angeklagte ständig zurück in die Wohnung gelaufen, um sich immer wieder Wein nachzuschenken. Auch habe er angefangen, »wirr zu reden.« Er habe schließlich versucht, ihr eine rosafarbene Tablette zu geben. «Das habe ich abgelehnt, ich nehme keine Drogen«, schildert die 49-Jährige. Der Angeklagte habe selbst mindestens eine dieser Pillen geschluckt.
Schließlich sei sie müde geworden und habe sich auf die Matratze zum Schlafen hingelegt. »Ich wurde wach, als er neben mir saß, Wein trinkend, und weiter komische Dinge sagte.« Danach habe er sich auf sie gelegt. »Ich dachte zuerst, er wollte wieder normalen Sex.« Doch er habe ihr die Beine nach oben gedrückt, mit beiden Händen ihren Hals umfasst und sie plötzlich und unvermittelt stark gewürgt. »Ich habe keine Luft mehr bekommen, ich hatte Todesangst«, sagt sie leise.
Dauerhafte Beeinträchtigung
Als sie sich wehrt, schlägt er ihr mit einer Hand ins Gesicht. Bei dem Versuch, die Hände wegzudrücken, verletzt sie sich an einem Finger. Eine Kapselverletzung, wie später ein Arzt feststellen wird. Auch Male an Hals und Brust sowie eine noch andauernde Beeinträchtigung beim Essen, Trinken und Sprechen sind die Folge. Als er endlich von ihr ablässt, ist sie starr vor Schock und Angst, wie sie erzählt. »Ich wollte einfach nur noch weg.« Zugleich habe sie sich selbst wie in »Watte gepackt« gefühlt. Mit einer Freundin findet sie zwei Tage später den Mut, zur Polizei zu gehen.
Sie sei nicht mehr dieselbe wie vorher. »Ich bin in ärztlicher Behandlung und spreche auch einmal in der Woche mit Mitarbeitern der ›Gießener Hilfe‹, um überhaupt meinen Alltag bewältigen zu können.« Sie fühle sich stark eingeschränkt und nicht mehr beziehungsfähig, da sie kein Vertrauen mehr aufbauen könne. «Vorher hatte ich Ziele und Lebensqualität«, sagt die Frau. »Das ist jetzt alles dahin.«
Der Prozess wird fortgesetzt.