»Ich lief wie um mein Leben«

Im Schiffenberger Wald in Gießen musste im Juni eine amerikanische Weltkriegs-Bombe entschärft werden. Warum ausgerechnet dort? Auf der Suche nach möglichen Angriffszielen der Alliierten.
Gießen . Dass im Gießener Boden noch immer »Blindgänger« aus dem Zweiten Weltkrieg »schlummern«, ist angesichts der Intensität der damaligen alliierten Luftangriffe wohl kein Geheimnis. Insofern ist mit weiteren Funden und Einsätzen des Kampfmittelräumdienstes zu rechnen. In der jüngeren Vergangenheit war davon zumeist das östliche Stadtgebiet betroffen, weil die Nationalsozialisten das Gelände um den ehemaligen Flughafen bis zur Bombardierung 1945 als Militärstützpunkt genutzt hatten und dort dann wiederum nach dem Abzug der US-Soldaten viel gebaut worden ist - und nach wie vor wird. Auch die damals angerichteten massiven Zerstörungen im historischen Stadtkern während der »Operation Hake« sind hinlänglich bekannt; ebenso, dass Gießen als wichtiger Knotenpunkt für den Bahnverkehr galt, der zerschlagen werden sollte. Die letzte 500-Kilo-Bombe, die Anfang Juni bei Abbauarbeiten entdeckt und ohne Probleme entschärft wurde, lag allerdings in der Tongrube im Schiffenberger Wald, zwischen Schiffenberger und Steinberger Weg. Daher tauchte die Frage auf: Warum eigentlich dort?
»Dabei dürfte es sich um eine Anlage der ehemaligen Wilhelm Gail’schen Tonwerke handeln«, sagt Stadtarchivar Dr. Christian Pöpken auf Anfrage des Anzeigers. Wie aus dem als Sonderband des Oberhessischen Geschichtsvereins veröffentlichten Buch »Hake« von Dietrich Graef (1986/1991) zu entnehmen ist, sind auch Industriebetriebe wie etwa Gail und Bänninger im Erdkauter Weg oder Heyligenstaedt im Aulweg Ziele der Attacken aus der Luft gewesen. Jedenfalls hätten sich US-Tagesangriffe »häufig auf das Gebiet zwischen Aulweg und Bergwerkswald« konzentriert, heißt es bei Graef, der größtenteils britische und amerikanische Unterlagen ausgewertet hat. Als »kriegswichtig« wird ferner die Verladestelle an der Bahnstrecke nach Gelnhausen benannt. Die Industrieanlagen seien »mit großer Wahrscheinlichkeit spätestens bei Bombenabwürfen Anfang/Mitte März 1945, also kurz vor Einmarsch der amerikanischen Truppen, vermutlich aber schon vorher«, ins Visier der Flieger geraten, so Pöpken. Bestätigen lasse sich dies auch anhand eines britischen Luftbildes vom 15. März 1945, »das die Gegend um den Erdkauter Weg bis zum Schiffenberger Wald, die dortigen Gail’schen Tabak-, Ton- und Keramikwerke mit den zugehörigen Tongruben samt Bombenkratern und Eindrücken der Zerstörung wiedergibt«, erläutert der Stadtarchivar.
Ein weiterer interessanter Hinweis findet sich in dem Beitrag »Modernisierung in der Krise: 1918 bis 1945« von Prof. Winfried Speitkamp, der in dem Buch »800 Jahre Gießener Geschichte 1197-1997« erschienen ist. Der Historiker berichtet darin, dass der materielle und reale Untergang Gießens im Frühjahr 1944 einsetzte. Bis dahin schien die Stadt nicht unmittelbar in Militäraktionen hineingezogen zu werden, die Bevölkerung habe sich in dieser Hinsicht nicht bedroht gefühlt. Erst in der zweiten Märzhälfte »vermittelten Bombenangriffe auf das Gießener Stadtgebiet eine Vorahnung des Kommenden«, seit Ende September nahm das Bombardement bis zum Jahresende zu. »Dahinter standen militärische und politische Erwägungen. Einerseits sollten offenbar der Verkehrsknotenpunkt, die Bahnverbindungen und die gewachsene militärische Bedeutung Gießens getroffen werden, dies zumal seit Oktober 1944, als das Oberkommando des deutschen Westheeres sein Hauptquartier in einem Bunker im Schiffenberger Wald bei Gießen bezogen hatte«, schreibt Speitkamp.
Ihren Höhepunkt erreichten die Bombardierungen im Dezember 1944. Das Ausmaß war verheerend. Zeitzeugin Maria Tillmann (1923-2015) hat dazu ihre Erinnerungen in dem Buch »Vor 70 Jahren« festgehalten und obendrein einiges dem Rabenauer Heimatforscher Horst Jeckel erzählt. Zum 11. Dezember 1944 hat sie ihm folgendes Erlebnis geschildert, das ebenfalls eine Erklärung für die Bombe im Schiffenberger Wald liefern kann: »An diesem Tag befand ich mich im Schiffenberger Tal. Jahrelang war ich Funkerin bei der Luftwaffe, eingezogen mit sechzehn Jahren am ersten Kriegstag 1939. Dann hatte ich eine schwere Operation und brauchte keinen sogenannten Kriegsdienst mehr zu absolvieren. Aber ich wurde in einer Munition herstellenden Firma zwangsweise angestellt. Die Firma war von Berlin in die Gail’schen Tonwerke gewechselt. [...] Am Morgen dieses 11. Dezember 1944 hörten wir von fern her das Brummen der Flugzeugverbände, die sich Gießen näherten. Das langgestreckte Gebäude lag in Nord-Süd-Richtung. Zwischen dem Ost- und dem Westtrakt zog sich eine dicke Mauer hoch, als wollte sie die Fabrik teilen. Ich befand mich kaum im Ostteil, als in den westlich gelegenen Gebäudeteil die Bomben einschlugen. Wir schützten mit unseren Armen die Köpfe, wir dachten, jetzt hat es uns alle erwischt. Die Schreie von nebenan durchdrangen diese Mauer, die uns vermutlich durch ihre Stabilität das Leben gerettet hatte. Sobald die Flugzeuge abgeflogen waren, suchte ich das Freie. Das war wirklich eine weite freie Weidelandschaft. Ich lief wie um mein Leben, verstört, verängstigt, nicht eines klaren Gedankens fähig. Ich lief einfach, immer in Richtung Stadt.«