»Ignorante Vorstellung von der EU«

Gießen . Thomas Kielinger, ehemaliger Welt-Journalist und Autor einer Biografie über Großbritanniens Oberhaupt Elizabeth II. namens »Das Leben der Queen«, ist einer Einladung der Deutsch-Britischen Gesellschaft Rhein Main und der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung in das Alte Schloss gefolgt und hat dort mit dem FDP-Politiker Achim Güssgen-Ackva über britische Politik, Eigenheiten der dortigen Bevölkerungen sowie Zukunftsaussichten gesprochen.
Der Monarchie prophezeit er trotz politischer Unruhe eine gesicherte Zukunft, was nicht zuletzt an der Queen festzumachen sei.
Thema Brexit ausschlaggebend
Der Brexit war - wie sollte es auch anders sein - ein Thema, welches Kielinger zur Erfassung der derzeitigen Lage des Vereinigten Königreiches heranzog. Dass dieser trotz Zureden von außerhalb des Landes und eines nun auch eingetretenen Minusgeschäfts - Kielinger zog aktuelle Zahlen von einem vier bis fünf Prozent niedrigeren Bruttoinlandsprodukts heran und ging auf den Verlust von Handlungsbeziehungen ein - letztendlich durchgeführt wurde, hatte seines Erachtens ideologische Gründe. So sei insbesondere der ausgeprägte britische Wunsch nach Souveränität für den EU-Ausstieg verantwortlich zu machen.
»Die Briten haben eine ignorante Vorstellung von der EU«, so der Journalist weiter. Er illustriert dies am Beispiel der Internet-Gesuche vor dem Referendum. »What ist the EU«, also »Was ist die EU«, haben damals besonders viele Menschen auf der Insel versucht herauszufinden. Insgesamt beschreibt er die politische Bindung Großbritanniens an Kontinentaleuropa als eher schwach. Dies zeige auch die Geschichte des Landes. So steht etwa der Bruch des Heinrich VIII. mit dem Papst im Zeichen der britischen Souveränität. Die Worte von Elisabeth I., die 1588 die Unantastbarkeit des Landes gegenüber Europa betonte, lassen zudem den Brexit verständlicher erscheinen. Nichtsdestotrotz bleibe der Schritt für den in London wohnhaften Kielinger »ein Rätsel«.
Misstrauensvotum
Die Politik des amtierenden Premierministers Boris Johnson reiht sich darin nahtlos ein, wenngleich es zuletzt trotz großer Stimmenmehrheit im Unterhaus vermehrt Kritik an dem »exzentrischen« Politiker gegeben habe. Die Briten würden »vieles verzeihen«, so Kielinger. Unwahrheiten, Zwielichtigkeiten und »Tricksereien« gehörten jedoch nicht dazu. Dementsprechend sieht es der Großbritannien-Kenner als realistisch an, dass es noch in diesem Jahr ein zweites Misstrauensvotum gegen Johnson geben könnte, auch, wenn dies bis dato innerhalb derart kurzer Zeit - das letzte Votum hat im Mai stattgefunden - nicht vorgesehen sei. Bei der jüngsten Abstimmung haben immerhin 40 Prozent der eigenen Parteimitglieder gegen ihn gestimmt.
Das kontroverse Denken des Premiers, dass er wohl auch »nicht ändern wird«, zeige sich etwa in der öffentlichen Antizipation einer dritten Amtszeit. »Um zu beweisen, dass er auch an die Zukunft denkt«, erklärt Kielinger. Nichtsdestotrotz spreche für seinen Verbleib, dass es der konservativen Partei an Führungsfiguren mangele. Zudem habe Johnson angesichts des Kriegs in der Ukraine nun die Möglichkeit, mit »Churchill-Rhetorik« zu bestechen, etwa, indem er Putin als »Verbrecher« bezeichne. Pluspunkte könne er zudem durch Handlungen wie die Ausbildung ukrainischer Kämpfer im Umgang mit Raketen sammeln. Dies tue jedoch der »Spaltung«, die sich mit dem Brexit »in die Gesellschaft geholt« worden sei, keinen Abbruch. Verstärkt werde diese etwa durch die derzeitige Inflation. Der Umgang mit derartigen Krisen sei durch den EU-Austritt erschwert.
Nicht zuletzt ist auch von der Queen und des sich um sie scharenden Königshaus die Rede gewesen. Der Monarchie attestiert Kielinger in diesen turbulenten Zeiten Kontinuität. Zu dieser trage auch Elizabeth II. erheblich bei, die sich etwa vor kurzem bei einer Zeremonie im unabhängigkeitswilligen Schottland öffentlich zeigte, was das »Vereinigt-Sein« des Königreichs bestärke. »Das zeigt für mich, wie klug sie ist, wenn es darum geht, die Weichen zu stellen«, so Kielinger. Auch im Commonwealth habe sie etwa dafür gesorgt, dass ihr Sohn Charles bereits als ihr Repräsentant agiere. Herzogin Camilla werde zudem nach ihrem Tod den Status einer »Königsgemahlin« erlangen, was ebenfalls ein wichtiger Schritt von Elizabeth II. gewesen sei, um die Monarchie zu erhalten. Dies sei schließlich auch ein bestimmender Wesenszug dieses politischen Systems, so Kielinger.
Dessen Biografie über die Queen, welches mittlerweile zum fünften Mal neu aufgelegt wurde, ist vor Politik im Übrigen auch nicht gewappnet: Brexit-bedingte Zölle ließen die Versandkosten von 10 Pfund - umgerechnet 13 Euro - in die Höhe schnellen. Aufgrund der britischen Haltung werde dies voraussichtlich auch noch eine Weile so bleiben.
