»Immer deutlichere Realität«

Hitze, Starkregen und Hochwasser: So will sich die Stadt Gießen an den Klimawandel anpassen
Gießen . »Wann wird’s mal wieder richtig Sommer?«, sang Rudi Carrell 1975 und wünschte sich »Sonnenschein von Juni bis September«. In den vergangenen Jahren hätte er wohl eher gefragt: Wann wird’s mal wieder richtig regnen? Die Carrell’sche Sommer-Sehnsucht wirkt angesichts von Klimakrise und sterbenden Wäldern völlig aus der Zeit gefallen. Wie sich das Klima in den vergangenen 60 Jahren verändert hat und wie die Stadt Gießen darauf reagiert, zeigt das kürzlich veröffentlichte Klimawandelanpassungskonzept, das in der jüngsten Sitzung des Ausschusses für Klima-, Umwelt- und Naturschutz vorgestellt wurde.
Elf statt sechs Hitzetage
Klimatische Veränderungen sind »auch in Gießen immer deutlichere Realität«, stellen die Verfasser des 33-seitigen Konzepts fest. Während es im Referenzzeitraum zwischen 1961 und 1990 durchschnittlich lediglich sechs Hitzetage mit Temperaturen über 30 Grad gab, waren es zwischen 1991 und 2020 im Durchschnitt knapp elf. Dies entspreche einer Zunahme von rund 83 Prozent. Seit 2012 sei zudem kein Jahr ohne Hitzewelle verzeichnet. Die langjährige mittlere Lufttemperatur ist im Vergleich zum Referenzzeitraum um 0,8 Grad gestiegen. Im Winter ist es auch etwas seltener knackig kalt: Bei Frosttagen ist beim Vergleich der beiden Zeiträume eine leichte Abnahme um 0,6 Prozent zu erkennen.
Zwar sei die Stadt durch ihre Lage innerhalb des Gießener Beckens durch ein »relativ niederschlagsarmes Klima geprägt«, doch gebe es angesichts des Versiegelungsgrades und der Besiedlungsdichte ein hohes Gefahrenpotenzial für Starkregen. Ein großer Teil der versiegelten Flächen sei zudem überflutungsgefährdet.
Das Thema Hochwasser sei für die Stadt aufgrund ihrer Lage an der Lahn seit jeher von Bedeutung, durch den Klimawandel werde eine entsprechende Anpassung und Vorsorge aber noch wichtiger. Überschwemmungsgebiete für Hochwasserereignisse, die statistisch einmal in 100 Jahren zu erwarten sind, wurden im Bereich der Lahn, des Wiesecktals sowie an Klee- und Lückenbach festgesetzt.
Um Bevölkerung, Infrastruktur und Biodiversität zu schützen, sieht das Konzept vier Handlungsfelder vor: »Hitze und Trockenheit«, »Starkregen«, »Hochwasser« sowie »übergreifende Maßnahmen«. 52 gelistete Maßnahmen wurden demnach bereits umgesetzt beziehungsweise sind in Umsetzung, 13 weitere in Planung. Für eine klimagerechte Stadtgestaltung sei »unabdingbar, die verschiedenen Fachdisziplinen bei Planungsentscheidungen einzubeziehen und gemeinsam aufeinander abgestimmte Maßnahmen zu entwickeln«.
Beim Wassermanagement komme den Mittelhessischen Wasserbetrieben (MWB) eine tragende Rolle zu. Das etwa 500 Kilometer lange Kanalnetz in der Stadt transportiert pro Jahr etwa 23 Millionen Kubikmeter Schmutz- und Regenwasser. Zum Schutz vor Starkregen ist eine stetige Weiterentwicklung der Entwässerungsanlagen vorgesehen. Demnach haben die MWB die Anzahl der Anlagen in den vergangenen Jahren stetig erhöht. Die Stadt Gießen verfüge mittlerweile über 16 Pumpstationen, 20 Regenentlastungsbauwerke, 31 Regenrückhaltebecken und 16 Stauraumkanäle. Im Fall der Fälle könnte die Feuerwehr auf über 1000 gefüllte und 20 000 ungefüllte Sandsäcke zugreifen, Sandsackfüllmaschinen stehen bei den MWB und der Feuerwehr Heuchelheim.
Zu den geplanten Maßnahmen gehören im Handlungsbereich »Hitze und Trockenheit« etwa die Umgestaltung des Brandplatzes, die Neugestaltung des Platzes vor dem Erwin-Stein-Gebäude oder die Nutzung des Ablaufwassers des Kläranlagen-Schönungsteiches für die Bewässerung von Jungbäumen.
Gegen Hochwasser soll unter anderem die geplante Verlagerung des Damms zwischen Wieseck und Freibad schützen. Um bei Starkregen vorbereitet zu sein, soll Künstliche Intelligenz zum Beispiel bei der Kanalnetzsteuerung zum Einsatz kommen.
Neben der Klimawandelanpassung auf kommunaler Ebene thematisiert das Konzept auch Maßnahmen im privaten Bereich. Dach- und/oder Fassadenbegrünung könnten etwa für bessere Luftqualität und ein ausgeglichenes Gebäudeklima sorgen, aber auch Energie einsparen. Alternativ könnten Fassadendämmung und der Bau von Gauben statt Dachfenstern die Erhitzung des Hauses verhindern. Mit deutlich weniger Aufwand verbunden ist dagegen die richtige Auswahl von Pflanzen für Balkon oder Garten: Das Konzept empfiehlt, hier auf mediterrane Pflanzen zu setzen.