In Gießen fällt vielen »eine Last von den Schultern«

Die Karstadt-Filiale im Gießener Seltersweg bleibt erhalten. Aber das Restaurant soll wohl geschlossen werden. Die Erleichterung bei Politik, Handel und Gewerkschaften ist dennoch riesengroß.
Gießen. Früher Montagnachmittag: Lothar Schmidt macht einen zutiefst gelösten Eindruck. Kein Wunder. Denn soeben hat der Geschäftsführer verkündet, dass die heimische Filiale von Galeria Karstadt Kaufhof erhalten bleibt. »Heute ist ein guter Tag. Ich habe den Mitarbeitern eben mitteilen können, dass Gießen zu den 77 Filialen gehört, die fortgeführt werden«, freut sich Schmidt. Heidrun Feierabend hat indes gemischte Gefühle. »Ich bin natürlich glücklich für die Filiale und alle Gießener Kollegen. Ich denke aber auch die ganze Zeit an die 4100 Mitarbeiter, die wissen, dass sie ihren Arbeitsplatz verlieren werden. Ich vermute, das geht heute vielen so«, meint die Betriebsratsvorsitzende. Von den deutschlandweit 129 Standorten wird das Unternehmen 52 schließen. Das ist das Ergebnis eines Schutzschirmverfahrens, das der Konzern im Herbst eingeleitet hatte.
Vorbild aus Kassel
Manch irritierter Kunde muss am Montag kurzzeitig draußen bleiben. »Wegen einer Betriebsversammlung ist unser Haus momentan geschlossen. Wir danken für Ihr Verständnis und sind gleich wieder für Sie da«, ist auf Schildern zu lesen. Eine kleine Menschentraube bildet sich im Eingangsbereich. Eine halbe Stunde muss sie warten - dann öffnen sich erneut die Pforten. »Nach der langen Anspannung ist den Mitarbeitern wirklich eine Last von den Schultern gefallen. Wir freuen uns wirklich sehr, auch für den Einzelhandelsstandort Gießen, dass die Galeria erhalten und fortgeführt wird«, betont Schmidt, als die ersten Kunden wieder den Laden betreten. Besonders die Stammkunden hätten die Filiale stark unterstützt.
Wird es trotzdem Veränderungen geben? »Dazu kann man im Moment noch nicht viel sagen. Es ist schon angedacht, dass die verbliebenen Filialen in relativ kurzer Zeit analog zum Modell Kassel restrukturiert werden. Aber wann und wie: Es ist noch zu früh, darauf zu antworten.« Das gelte auch für mögliche Kündigungen. »Wir sind eigentlich froh, dass wir jetzt schon so viel Gutes berichten können«, unterstreicht Schmidt.
»Ich denke gerade auch an die Kollegen vom Restaurant/Café hier in Gießen, das zum 30. Juni geschlossen wird. Auch sie verlieren alle ihren Arbeitsplatz«, informiert Feierabend. Wirklich zufrieden könne man deshalb an diesem Tag nicht sein. Die Mitarbeitervertreterin rechnet mit weiteren Veränderungen im Bereich des Personals. »Vermutlich werden in den nächsten Tagen weitere Informationen kommen.«
Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher spricht dennoch von einem guten Tag für die Innenstadt. Karstadt bringe Nachfrage in die Stadt - »und die brauchen alle, so wie Karstadt ein gutes städtisches vernetztes Umfeld braucht; das bieten wir«. Man werde das Gießener Haus weiterhin in allem unterstützen, was nötig sei, um diesen Weg konstruktiv zu begleiten. »Karstadt Gießen hat in den vergangenen Jahren schon viele Klippen erfolgreich umschifft und dank seiner engagierten Belegschaft bewiesen, dass das Angebot und vor allem auch gute Beratung das A und O erfolgreichen stationären Einzelhandels sind«, so der Sozialdemokrat.
»Startschuss für nachhaltige Entwicklung«
»Ich freue mich zuallererst für alle Mitarbeiter in unserer Nachbarschaft. Nicht nur - wenn auch vor allem - für die Karstädtler, sondern auch für die der anderen Seltersweg-Geschäfte. Eine Schließung wäre ein kaum zu kalkulierender Einschnitt gewesen«, ergänzt Heinz-Jörg Ebert. Im vergangenen Sommer - als noch niemand von einer drohenden Insolvenz sprach - sei der BID Seltersweg zweimal in Kassel gewesen, um an der Zukunft der Fußgängerzone, des Selterstores und damit auch der Innenstadt zu arbeiten. »Die Perspektive der Multifunktionalität mit vernetztem Einzelhandel, Wohnen, Bildung, Kultur, Dienstleistung, Gastronomie, Nahversorgung und lebendiger Aufenthaltsqualität war Schwerpunkt der Positionierung. Dieses Bild wurde mit Magistratsmitgliedern, Fraktionen, Handel, Eigentümern, Investoren, Kreativen und weiteren Institutionen in einem intensiven Prozess gezeichnet«, erinnert der BID-Vorsitzende. Die jetzige Entscheidung könnte somit »der Startschuss für eine nachhaltige, lebendige Entwicklung sein, wenn alle die Ärmel dabei zielorientiert und ganzheitlich hochkrempeln«.
»Total erleichtert« zeigt sich Manuel Sauer von Verdi Mittelhessen. Die Gewerkschaft hatte im November die Solidaritätsaktion »Mein Herz schlägt für Galeria« initiiert und Unterschriften gesammelt. Immerhin habe »nicht mehr und nicht weniger als das wirtschaftliche Schicksal aller Kolleginnen und Kollegen - und deren Familien - auf dem Spiel« gestanden. Karstadt in Gießen sei definitiv ein »tolles Haus mit großer Tradition« und werde nun auch weiterhin »ein Magnet bleiben«. Gleichwohl sei zuletzt wiederholt angedeutet worden, dass selbst bei jenen Standorten, die fortbestehen, »an der Personalschraube gedreht werden könnte«. Da die Karstadt-Häuser aber in den vergangenen Jahren bereits erheblich »runtergefahren« worden seien, hält Sauer es für denkbar, dass davon stärker die ehemaligen Kaufhof-Filialen betroffen seien. »Die Details müssen wir uns jetzt genau anschauen.«
Bemerkenswert sei jedenfalls nach wie vor, mit welche Passion und Identifikation die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter - teilweise seit Jahrzehnten - »brennen für das, was sie tun«, betont wiederum Matthias Körner, Geschäftsführer der DGB-Region Mittelhessen. In schnelllebigen Zeiten mit ständig wechselnden Trends und Moden sei dies keineswegs mehr selbstverständlich. Zudem wertet er es als positives Signal, dass man offenbar auch in der Konzernzentrale von der Attraktivität des Gießener Standortes überzeugt zu sein scheine. Um einen »wichtigen und stabilisierenden Anker« handele es sich auch für die Innenstadt, die von Karstadt »zusammengehalten wird«.