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»Irgendwann ist dann auch gut«

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Von: Ingo Berghöfer

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»Ich habe schon ein paar Spuren hinterlassen«, sagt Gerhard Merz. Jetzt aber widmet er sich anderen Projekten. Archivfoto: Friese © Red

Gerhard Merz verabschiedet sich - wie lange geplant - überraschend aus der Gießener Kommunalpolitik. Hier erzählt der Sozialdemokrat auch die Geschichte einer langsamen Entfremdung.

Gießen . Die Entscheidung sei lange herangereift, getroffen habe er sie dann aber doch kurzfristig, sagt Gerhard Merz. Der große, etwas ältere Mann der Gießener Sozialdemokratie hat am 1. Februar mit nun mehr 70 Jahren sein Mandat im Stadtparlament zurückgegeben. Nachrücken wird für ihn die 33-jährige Stefanie Kraft.

Ob im Stadtparlament, im Kreistag oder im Landtag: Merz hat seit seinem Einstieg als Referent beim früheren Bürgermeister Lothar Schüler 30 Jahre lang die Kommunalpolitik geprägt. Wenn man seine zahlreichen Ehrenämter dazurechnet, sind es sogar 40 Jahre. Dass er es nicht ganz nach oben schaffte - 2003 unterlag er bei der Wahl des Oberbürgermeisters knapp Heinz-Peter Haumann von der CDU und hessischer Sozialminister war er nur im Schattenkabinett von Thorsten Schäfer-Gümbel - war ein Verlust, wenngleich sich Merz oft auch selbst im Wege stand. Der Mann, der nicht von ungefähr »Gripsi« genannt wird, war nicht nur klüger als viele seiner Weggefährten, er hat sie das auch spüren lassen. Aber der Wähler goutiert im Zweifel lieber ein nettes Lächeln als ein geschliffenes Wort oder klares Argument.

Eigentlich sei er ja schon vor der Kommunalwahl auf dem Absprung gewesen, räumt Gerhard Merz im Gespräch mit dem Anzeiger ein, habe sich dann aber doch noch mal auf die Liste setzen lassen. »Ich habe den Genossen gesagt: ›Platziert mich da, wo ihr es für richtig haltet.‹ Das war Platz 30 und wir wissen alle, wie es dann ausgegangen ist.« Die Wähler wollten von ihm noch einen Nachschlag und dann »nimmt man solch ein Mandat natürlich auch an«.

»Ich bin heute dünnhäutiger«

Merz und das Stadtparlament, das ist auch die Geschichte einer langsamen Entfremdung. Die Art und Weise, wie es mittlerweile arbeite, mache ihn schon lange nicht mehr froh und sei zuletzt auch eher unersprießlich gewesen.

Früher sei es noch leichter gewesen, in Ausschusssitzungen zu vermitteln und auch schon mal verhärtete Fronten aufzubrechen. Durch die Zersplitterung des Parlaments mit mittlerweile neun Parteien würden aber solche Möglichkeiten natürlich nicht größer.

»Ich bin auch dünnhäutiger geworden. Da hat der Kollege Dominik Erb durchaus Recht«, räumt der Sozialdemokrat ein, der selbst immer gerne und gut ausgeteilt hat. Bei manchen Abgeordneten vermisst er Leidenschaft und Ernsthaftigkeit in der Auseinandersetzung. Viele Reden würden eher für die Galerie gehalten, obwohl die ja meist leer sei.

Das Ernstnehmen von parlamentarischen Regeln sei dagegen eher in Misskredit gekommen, meint der Sozialdemokrat, auch wenn man sich natürlich immer klar machen müsse, dass der Blick zurück manches verkläre.

In den vergangenen Jahren hätten auch verstärkt Ereignisse auf nationaler Ebene bis in die Stadt durchgeschlagen, ob das der Streit um Städtepartnerschaften, der Ukraine-Krieg oder das Aufflammen von Antisemitismus gewesen seien. Merz stellt aber auch fest, dass bundespolitische Themen in einer globalisierten, von Migration geprägten Welt nicht mehr so einfach von der Kommunalpolitik zu trennen seien. Erfreulich sei, dass die breite demokratische Mehrheit bei diesen Themen im Parlament zusammengefunden habe - »und das ist so schlecht nicht gewesen«.

Sorgen bereitet ihm dagegen das Erstarken des Populismus, dessen Verlockungen längst nicht nur auf der rechten Flanke nachgegeben werde. In diesem Zusammenhang kritisiert er zugleich das Bürgerbegehren zum Schwanenteich, das in letzter Konsequenz dazu geführt habe, dass die notwendige Dammsanierung für drei Jahre auf Eis gelegt wird. Ihn würde schon interessieren, wie die Wähler bei einem Bürgerentscheid in Kenntnis aller Argumente entschieden hätten.

Gefährliches Spiel mit dem Populismus

Der Stadtverordnete aber muss seine Entscheidungen selbst fällen und dafür ist er auch verantwortlich. Das ist Merz’ Credo. »Es geht mir furchtbar auf den Geist, dass denen, die diese Entscheidungen treffen müssen, immer häufiger der gute Wille abgesprochen wird.« Diese Mentalität sei auch bei einer Reihe von Parlamentariern vorhanden. Für Merz ist das ein gefährliches Spiel.

Darüber hinaus konstatiert er eine schwindende Bereitschaft, demokratische Entscheidungen gelten zu lassen und diese nicht als illegitim zu diffamieren. »Die andere Reaktion ist es, sich gelangweilt abzuwenden oder Politik zum Gegenstand meist weniger gelungener Satiren zu machen.«

Was war im Rückblick der bitterste Moment in seinem langen Politikerleben? Er muss nicht lange überlegen, diese Wunde blutet noch. Die Abschaffung der Förderstufen an den drei Gießener Gymnasien durch die Landesregierung, in deren Folge die Kooperative Gesamtschule Gießen aufgelöst worden sei - für Merz ein nicht wieder gutzumachender Fehler.

Auf der Habenseite verbucht er die von ihm maßgeblich voran getriebene soziale Stadterneuerung, die er schon als einfacher Stadtverordneter gefördert und als Sozialdezernent auf den Weg gebracht habe. Stolz ist er zudem, dass es unter seiner Ägide gelungen sei, die Finanzierung freier Träger auf eine dauerhafte verlässliche Grundlage zu stellen. »Ich habe schon ein paar Spuren hinterlassen«, resümiert Merz in aller Bescheidenheit, denn unersetzliche Menschen finde man ja vor allem auf Friedhöfen.

Dann ist aber auch mal gut mit der Rückschau. »Es ist ja nicht so, dass ich mich jetzt auf das Sofa lege und nur noch Bücher lese.« Gerhard Merz wird weiterhin am Runden Tisch gegen Antisemitismus mitarbeiten, ebenso im Kinderschutzbund, wo gerade neue Projekte angestoßen werden. Ein Herzensanliegen ist ihm auch die Stärkung der Kinder- und Jugend-Partizipation und der Verein zur Förderung von Menschen mit Behinderung.

Und dann ist da ja auch noch eine Leidenschaft, die viele ihm wohl gar nicht zugetraut hätten und die vielleicht den letzten Anstoß zum Ausstieg aus der Politik gegeben hat. Am 8. November hatte Merz im Rathaus mit seiner Frau, der Musikpädagogin Claudia Jirka, und dem Licher Jazzmusiker Helmut Fischer Songs und Geschichten des »anderen Amerika« aufgeführt - und dieses Konzert hat »total viel Spaß« gemacht. Als nächstes plant Merz ein musikalisches Programm zur gescheiterten Revolution von 1848, die sich in diesem Jahr zum 175. Mal jährt.

Und dann hat er noch vor, das eine oder andere Buch zu schreiben und seine Erinnerungen zu Papier zu bringen, letztere allerdings nur für seine Kinder. Und vielleicht schreibt er auch noch ein Buch über seinen Pablo, den berühmtesten Gießener Hund bei Facebook.

Kraft will ihren eigenen Weg gehen

»Relativ überrascht« von Merz’ Rücktritt wurde seine designierte Nachrückerin Stefanie Kraft, die sich gleichwohl auf die neue Aufgabe freut. Sie will auch gar nicht erst versuchen, in die großen Fußstapfen ihres Vorgängers zu treten, sondern lieber einen eigenen Weg einschlagen. Die stellvertretende hessische Juso-Vorsitzende, die im Nordstadtverein aktiv ist, sieht ihre Schwerpunkte in den Bereichen soziale Gerechtigkeit, Frauen- und Gleichstellungsthemen sowie LGBTQ.

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