Jeder Satz legt hier die Axt an
Was ist Literatur? Jedes Buch, das auf dem Markt um Leser kämpft? Jedes vom Zeitgeist getragene Thema, das von in Schreibwerkstätten geschulten Autoren routiniert zum Text wird? Jede Selbstbespiegelung oder Nabelschau, die ein Verlag, weil es gerade en vogue ist, durchwinkt? Jede Geschichte, die, rasant erzählt, auf der Bestsellerliste landet?
Oder ist Literatur nicht viel mehr als das? Im besten Falle eine Kunstform, die sich sperrig zeigt, die nicht nur weggelesen, sondern auch erarbeitet werden will, die, wie Kafka schrieb, uns beißt und sticht: »Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? ( ) ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.« Als Franz Kafka die Axt anlegte, war ein solches Diktum noch einzulösen. Als Bücher noch keine Massenware waren, konnte man sehr wohl unterscheiden zwischen dem Buch und Literatur, entstanden nicht, weil einer schreiben will, sondern einer schreiben muss. Weil dem Text eine existenzielle (Nicht-)Entscheidung zu Grunde liegt.
Heutzutage dringen nur noch wenige Stimmen durch den Bücherwald, deren Literatur die Axt anlegt an uns. Herta Müller vielleicht, Elfriede Jelinek vielleicht, Josef Winkler, der Portugiese Antonio Lobo Antunes, Tomas Espedal, Thomas Bernhard, David Foster Wallace - oder Mircea Cartarescu. Von dem 1956 geborenen Rumänen, vielfach ausgezeichnet, aber immer noch nur einem kleinen Lesepublikum bekannt (zum Glück!), gibt es nun den Erzählband »Melancolia«. Und was Cartarescu eine Erzählung ist, würden andere Schreiber gleich als Roman »verkaufen«, denn die drei Text-Passagen, eingerahmt und tatsächlich verbunden von Prolog und Epilog, kann man auch als die eine, die einzige Geschichte lesen. Eine Geschichte der Ich-Werdung, des Heranwachsens, eine Geschichte von Einsamkeit, Verlassenheit, höchster existenzieller Not. Sie erzählt von dem Fünfjährigen, dessen Mutter nicht vom Einkauf zurückkehrt, und der sich davonträumt. Dem Jungen, der die Türen seines Schranks öffnet, um die dort sorgfältig aufgehobenen Häute seiner Vergangenheit zu besichtigen, herauszuholen, zu sortieren. Oder dem Jungen, der seine kranke Schwester heilen will, indem er des Nachts aufbricht zum »Fuchsbau«, der ihn so furchtbar schreckt.
»Einstmals lebten in einer fernen Stadt, in der sich die Häuser wie blaue Flecken auf der blassen Haut des Himmels ausnahmen, zwei Geschwister, Marcel und Isabel«, heißt es da. Und Cartarescus Ton ist so stark, sein Stil so klar und doch geheimnisvoll, prägnant und doch dunkel, dass nicht das Buch, sondern jeder Satz die Axt anlegt an das gefrorene Meer in uns.
Man kann sich Cartarescu nicht entziehen, hat man einmal begonnen ihn zu lesen. Und nicht nur mit seinem als Epilog gekennzeichneten Text »Das Gefängnis« kommt er Kafkas »Strafkolonie« so nah wie kein anderer Autor der Gegenwart. Das ist Literatur, viel mehr als nur ein Buch, Poesie, viel mehr als nur Prosa. Oder, um es mit Cartarescu zu sagen: »Ich werde niemals wissen, wie das Sprechen tatsächlich ist, wie die Wörter aussehen, wenn sie voll sind, kompakt, warm und elastisch wie die Aale oder Maden, wie man die flaumigen Schuppen auf dem Flügel des Wortes Schmetterling sehen kann, wenn die geschmeidige Linse des Wortes Raureif darauf fällt.«
Mircea Cartarescu: Melancolia. 270 Seiten. 25 Euro. Zsolnay.