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Jetzt soll es doch Nötigung sein

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Von: Ingo Berghöfer

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Bei einer ähnlichen Aktion wie auf unserem Archivbild, hatten sich Umweltaktivisten vor zweieinhalb Jahren über der A 485 abgeseilt. Für die Staatsanwaltschaft Gießen ist das heute Nötigung. Archivfoto: Schäfer © Red

Zweieinhalb Jahre nach der Abseilaktion von einer Autobahnbrücke über der Grünberger Straße in Gießen klagt die Staatsanwaltschaft die Umweltaktivisten an.

Gießen . Die Mühlen der Justiz mahlen langsam und ihre Wege sind bisweilen rätselhaft. Rund zweieinhalb Jahre nachdem sich Umweltaktivisten von einer Autobahnbrücke in der Grünberger Straße über der A 485 abgeseilt hatten, um gegen den Bau der A 49 durch den Dannenröder Wald zu protestieren, flatterte diesen nun Post von der Gießener Staatsanwaltschaft ins Haus.

Wie der Pressesprecher der Staatsanwaltschaft Gießen, Thomas Hauburger, auf Anfrage bestätigte, würden die »Geschehnisse im November 2020 im Bereich der Autobahnbrücke Gießen - Höhe Grünberger Straße« vonseiten der Staatsanwaltschaft Gießen als Nötigung eingestuft, weil sich die Beschuldigten wenige Meter über der Fahrbahn der A 485 abgeseilt haben sollen. Dies habe eine Sperrung der Autobahn zur Folge gehabt. Gegen die Unterstützer der Kletterer wurden Verfahren wegen Beihilfe zur Nötigung eingeleitet.

Was diese Anklage mit Verzögerung allerdings pikant macht, ist, dass die Gießener Staatsanwaltschaft nur wenige Wochen vor der Aktion beim Ursulum eine ähnliche Abseilaktion auf der A 5 in Höhe Bersrod am 6. Oktober 2020 nicht als strafrechtlich relevant und als vom Demonstrationsrecht gedeckt eingestuft hatte.

»Das Verfahren anlässlich der Abseilaktion auf der A 5 Höhe Bersrod wurde nach Paragraf 170 Absatz 2 Strafprozessordnung eingestellt, weil dort keine physische Barriere errichtet worden war«, so Hauburger. Die dort einst Beschuldigten hätten sich - anders als im aktuellen Verfahren aus Gießen - nicht über der Fahrbahn abgeseilt, sondern lediglich außen am Geländer der Brücke. Es habe daher keine konkrete Gefahr der Kollision der Aktivisten mit einem Fahrzeug bestanden.

Aus dem Unterstützerumfeld der Aktivisten wird das allerdings bestritten. In der Projektwerkstatt Saasen versucht man seit einigen Jahren, Abseilaktionen als legitime Demonstrationsform zu etablieren und hat dabei auch schon einige juristische Erfolge erzielt.

Im Januar 2022 meldeten Aktivisten zeitgleich an mehreren Orten in Deutschland Abseilaktionen als Versammlung an. In einigen Städten stimmten die Versammlungsbehörden dem zu. Am 21. Januar 2022 fand in Frankfurt die erste Abseilaktion über einer Autobahn mit richterlichem Segen statt. Die Polizei sperrte für eine Stunde die A 648.

Zuletzt hatte man für den 26. März dieses Jahres eine Abseildemonstration über der A 9 in München angemeldet. Diese wurde von der Stadt München verboten und das Verwaltungsgericht bestätigte das Verbot, aber der bayrische Verwaltungsgerichtshof erlaubte schließlich die Aktion mit einem »Hammer-Beschluss« (Bild-Zeitung).

Auch was die juristische Bewertung der Kletter-Aktivisten angeht, fallen die Entscheidungen deutscher Gerichte bislang sehr unterschiedlich aus. Die Urteilspalette reicht da von Freisprüchen bis zu neun Monaten Haft.

Seitens der Aktivisten wird bestritten, dass es einen Unterschied zwischen den Aktionen bei Bersrod und auf der Grünberger Straße gegeben habe. Beide seien, zum Teil von den selben Personen, sorgfältig vorbereitet und genau geplant durchgeführt worden. Die Staus auf den Autobahnen seien in beiden Fällen nicht von den Aktivisten ausgelöst worden, sondern von der Polizei. Man habe immer genau darauf geachtet, dass man den Fahrbereich, der bis zur Höhe von 4,70 Metern reicht, nie berührt habe.

In Saasen vermutet man, dass die Staatsanwaltschaften seitens der Politik angehalten werden, gegen Umweltaktivisten eine härtere Gangart einzulegen, weil durch die »Letzte Generation« Straßenblockaden mittlerweile zu einem Massenphänomen geworden seien. Deshalb habe man diesen alten Fall noch einmal ausgegraben, um potenzielle Nachahmer abzuschrecken.

Das bestreitet die Staatsanwaltschaft. Die Ermittlungen hätten - auch aufgrund »anderer vorrangig zu bearbeitender Haftsachen« - einige Zeit in Anspruch genommen, erläutert Hauburger.

Sollte das jetzt eingeleitete strafrechtliche Verfahren gegen die Autobahnkletterer für diese glimpflich ausgehen, droht ihnen allerdings noch von einer anderen Seite Ungemach. Die Gießener Polizei hat angekündigt, die Kosten im »mittleren vierstelligen Bereich« für die fünfstündige Sperrung der A 485 zivilrechtlich bei ihnen einzufordern.

Nachtrag:

Zum bislang letzten Mal haben Polizisten am vergangenen Mittwoch eine hessische Autobahn wegen unangemeldeter Aktivitäten gesperrt, allerdings waren deren Verursacher keine Umweltaktivisten. Die A 67 wurde am 12. April im Bereich des Übergangs zur A 60 in Richtung Mainz für 15 Minuten gesperrt, damit die Beamten vier Entenküken sicher über die Fahrbahn bringen konnten.

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