Journal der mäandernden Gedanken
Stellen Sie sich vor, Ihre Aufgabe lautet, Tag für Tag einen eigenen Gedanken zu notieren. Aber nicht irgendeinen Gedanken, sondern einen interessanten, originellen, vielleicht sogar einen überraschenden. Wer kann schon von sich behaupten, diese Geistesleistung im Trott des öden Alltags zu bewältigen? Karl-Markus Gauß (67) kann. Der Salzburger Schriftsteller und langjährige Herausgeber der Zeitschrift »Literatur und Kritik« legt mit »Die Jahreszeiten der Ewigkeit« nun ein »Journal« in Buchform vor, in dem er kurze Beiträge zusammengestellt hat, die zwischen seinem 60.
und 65. Geburtstag entstanden sind. Indem er darin die aktuellen Weltläufte mit dem persönlichen Erleben kurzschließt, gelingt es ihm, das ganz Große mit dem ganz Kleinen auf stimmige Weise zu verbinden.
Gauß kommt dabei zugute, dass er ein leidenschaftlicher Reisender ist, den es vor allem (aber nicht nur) nach Osteuropa zieht. Genauso wach und neugierig ist er aber in seiner Geburtsstadt Salzburg unterwegs. Und so mischen sich in seinem Buch Beobachtungen von der Straße mit Reiseimpressionen, lohnenden Lektüreerfahrungen und Gesprächsdestillaten, die er mit interessanten Zeitgenossen aller Art führte. Dem gerade mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichneten Gauß gelingt es auf diese Weise anschaulich, mosaikartig eine Art Gesellschaftsporträt zusammenzusetzen, wenn er etwa konstatiert: »Wir befinden uns in einer Gesellschaft der Minderheiten, wobei die kulturellen die sozialen Minderheiten mittlerweile bei weitem überwiegen«. Sätze wie dieser finden sich zuhauf in diesem lohnenden Journal, das den Lesern auch dabei hilft, die eigenen Gedanken zu sortieren. Von manchen wusste man bis dahin nicht einmal, das man sie hatte. Björn Gauges
Karl-Markus Gauß: Die Jahreszeiten der Ewigkeiten. 313 Seiten. 25 Euro. Zsolnay.