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»Jüdische Schuhhändler verdrängt und beraubt«

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Von: Klaus Frahm

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Peer Morten Pröve © Klaus Frahm

Gießen (kjf). Die Rolle des Landgraf-Ludwigs-Gymnasiums (LLG) im Nationalsozialismus beleuchtete ein Vortrag von Jürgen Dauernheim und Gunter Weckemann, den die Arbeitsgemeinschaft gegen Antisemitismus und Rassismus am LLG für die Sekundarstufe II veranstaltete. Der zweite Vortrag, gehalten von Peer Morten Pröve, beschäftigte sich mit der Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz der jüdischen Bevölkerung in Gießen.

»In Gießen dauerte es nicht bis zu den Pogromen 1938, bis die Existenzen der jüdischen Schuhhändler vernichtet waren«, erklärte Pröve zu Beginn. In Gießen habe es die sogenannte Volksgemeinschaft geschafft, die wirtschaftlichen Existenzen jüdischer Geschäftsleute bereits bis 1937 zu vernichten. Zu dieser Erkenntnis kam der Historiker in seiner 2021 an der JLU entstandenen Bachelorarbeit. »Gießen und der Nationalsozialismus: Wie eine mittelhessische Stadt ihre jüdischen Schuhhändler verdrängte und beraubte« lautete der Titel der Arbeit und des Vortrags.

Pröve erläutert darin, wie die »Arisierung« jüdischer Geschäfte ab 1933 betrieben wurde und wie nicht jüdische Geschäftsleute den Antisemitismus im Kampf gegen ihre jüdische Konkurrenz nutzten.

Mit etwa 1000 Juden hatte Gießen in den 1920er Jahren einen großen Anteil jüdischer Mitbürger. Traditionell waren viele im Textil- und Einzelhandel aktiv. Drei Groß- und 14 Kleinschuhhandlungen in der Stadt wären ursprünglich von jüdischen Geschäftsleuten betrieben worden, so der Historiker, der aktuell in Köln sein Masterstudium absolviert. Bereits im Dezember 1932 seien die Schaufensterscheiben von SA-Leuten eingeworfen worden und zum Boykott gegen von Juden geführte Geschäfte aufgerufen worden.

Edmund Darré, bis 1933 Filialleiter der Schuhhandelskette Bottina am Selterstor, habe bereits im September 1933 die Filiale erworben. Darré habe es nicht nur verstanden, die Konkurrenz auszustechen, sondern auch einen rechtzeitigen Verkauf anderer Schuhhäuser zu verhindern. So konnte das Schuhhaus Süss erst drei Jahre nach den ersten Versuchen der Besitzerfamilie Krämer, das Geschäft zu verkaufen, von Karl Baier erworben werden, der sich im Nachhinein als Strohmann Darrés entpuppte.

Die Familie Krämer erhielt für das mit 35 000 Reichsmark eingeschätzte Geschäft 28 000 Reichsmark vom »arischen« Käufer und musste davon insgesamt 26 000 als »Judenvermögensabgabe« und »Reichsfluchtsteuer« an die Reichsvermögensverwaltung bezahlen.

Nach dem Krieg wurde nicht etwa der Erwerb für unwirksam erklärt, sondern die unter dem Nationalsozialismus geschaffenen Besitzverhältnisse wurden zementiert. »Eine Wiedergutmachung und Aufarbeitung des staatlich geförderten Unrechts fand quasi nicht statt«, so Pröve. Keiner der geschädigten jüdischen Familien habe es geschafft, sich im Exil eine neue Existenz aufzubauen.

Für die erzwungene Aufgabe der Unternehmen habe es niemals eine adäquate Entschädigung gegeben. Von den neuen Besitzern der Unternehmen sei die Existenz der früheren Besitzer bewusst verschwiegen oder abgestritten worden.

Eine kurze Diskussion zwischen den Schülern und Peer Morten Pröve schloss sich an und beendete die Veranstaltung. Foto: Frahm

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