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Kämpfen wie im Mittelalter

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»Pflug«, »Alber« und Co.: Die Kursteilnehmer müssen auch die passenden historischen Begriffe lernen. Foto: Pfeiffer © Pfeiffer

Zweimal pro Woche trainiert der Kurs »Historisches Fechten« beim MTV 1846 Gießen. Beim Duell mit dem Schwert gilt: Wer getroffen wird, hat verloren

Gießen . Dienstagabend auf dem Sportplatz der Ludwig-Uhland-Schule: Wer aus einem der umliegenden Wohnhäuser einen Blick nach draußen wirft, könnte etwas irritiert sein. Denn neben dem Basketballfeld stehen elf junge Menschen, die allesamt mit Schwertern ausgerüstet sind. Hier werden aber weder private Streitigkeiten ausgetragen, noch Szenen für einen Mittelalterfilm gedreht: Es ist der Kurs »Historisches Fechten« des MTV 1846 Gießen, der sich zu seinem Training trifft.

Seit 2015 gibt es den Kurs, Konstantin Reizammer ist fast von Beginn an dabei. Heute leitet er das Training gemeinsam mit Sebastian Werner. Das historische Fechten ist in Deutschland nicht als Sport anerkannt, schweißtreibend geht es trotzdem zu. »Man braucht Kraft, Ausdauer und Koordination«, sagt der Co-Trainer. Sein Stahlschwert wiegt 1,3 Kilogramm und hat eine 92 Zentimeter lange Klinge. Die Spitze ist stumpf - schließlich soll niemand verletzt werden. Blaue Flecken könne es aber durchaus mal geben, erzählt Reizammer: »Es ist ein Kampfsport mit Vollkontakt.«

Beim Thema »Fechten« haben die meisten Menschen wohl Sportler in weißen Anzügen und Fechtmasken vor Augen, die mit Florett, Degen oder Säbel gegeneinander antreten. Auch bei den olympischen Sommerspielen darf diese Disziplin nicht fehlen. Mit dem historischen Fechten, das nach der englischen Bezeichnung »Historical European Martial Arts« auch HEMA genannt wird, hat das aber wenig gemein.

Für ihr Training orientieren sich die Kursteilnehmer vom MTV an der Arbeit von Johannes Liechtenauer, einem deutschen Fechtmeister aus dem 14. Jahrhundert. »Es gibt keine Abschriften von ihm selbst, aber von Leuten, die von ihm gelernt haben«, weiß Reizammer. Im Verein nutzen sie daher ein Fechtbuch aus dem 15. Jahrhundert, dessen unbekannter Autor »Pseudo-Peter von Danzig« genannt wird. Anhand dessen Inhalts wird in der Gruppe eine lebendige Kampfkunst erarbeitet. »Wir animieren auch die Fechter, in die Quelle reinzuschauen«, erzählt der Trainer. Geschrieben ist das Buch jedoch auf Mittelhochdeutsch, es zu verstehen: schwierig. »Laut lesen hilft«, rät Reizammer, der an der Justus-Liebig-Universität Geschichte und klassische Archäologie studiert.

Doch bevor die Kursteilnehmer an diesem Abend in die historischen Fußstapfen treten, ist erst einmal Aufwärmen angesagt. Rund 30 Minuten lang leiten die beiden Trainer sie durch verschiedene Übungen. Denn: »Beim Fechten werden viele Muskelgruppen beansprucht.« Übermäßig durchtrainiert muss man aber nicht sein: »Das geht auch ohne massive Oberarme.« Anfänger würden das Gewicht der Schwerter mitunter überschätzen, zumal die Waffen beidhändig geführt werden.

Eine, die gerade Liegestütze auf den Matten in der Turnhalle macht, ist Anne. Die Schülerin ist seit knapp einem Jahr beim historischen Fechten dabei und die jüngste Teilnehmerin. Was ihr an dem Training so gut gefällt? »Ich finde Schwerter einfach cool.« Außerdem habe sie ein Faible für Geschichte und Fantasy - zwei Interessensgebiete, die viele der Anwesenden teilen. Neben Anne sind noch zwei weitere Frauen zugegen. Bei den neuen Interessierten sei das Geschlechterverhältnis weitgehend ausgeglichen, erzählt der Trainer. Langfristig seien es aber doch vor allem die Männer, die sich für das Fechten begeistern.

Historisches Fechtbuch als Quelle

Nach dem Aufwärmen geht es nach draußen. Vor dem Zweikampf heißt es aber erst einmal, die Techniken zu üben. Schnell wird deutlich, weshalb die Teilnehmer sowohl eine praktische als auch eine theoretische Übung ablegen müssen. »Pflug«, »Alber« oder »Langort« sind nur einige Fachbegriffe, die Reizammer über den Trainingsplatz ruft. »Wir setzen bei den Fortgeschrittenen voraus, dass die Begriffe sitzen.«

Bereits viel Erfahrung im historischen Fechten gesammelt hat Janis Siedentopf. 2015 hat er in dem Kurs begonnen, zuvor war er 13 Jahre lang Sportfechter. »Schwerter sind mein Ding«, sagt er. Das Fechten habe jedoch viel von seinen historischen Wurzeln verloren und sei sehr »versportlicht«. Doch auch im historischen Fechten werden Turniere organisiert. Trainer Reizammer zieht es da aber nicht hin: »Es gab früher mal eine Tendenz zum partnerschädigenden Verhalten bei den Turnieren.« Eine »Versportlichung« würde außerdem nicht zu dem Ziel passen, sich möglichst nah an der historischen Überlieferung zu orientieren.

Die Stahlschwerter, die an diesem Abend zum Einsatz kommen, haben sich die Kursteilnehmer übrigens privat angeschafft. Kein ganz billiges Vergnügen, mehrere Hundert Euro müsse man für ein gutes Schwert einplanen. Wer kein Stahlschwert hat, kann aber mit den Trainingswaffen aus Kunststoff üben, die der Trainer mitgebracht hat.

Die Kursteilnehmer sind derweil zum Zweikampf übergegangen. Die oberste Regel lautet: Treffer sollten unbedingt vermieden werden. Schließlich hätte im Mittelalter auch eine vermeintlich kleine Verletzung böse Folgen haben können. »Und bis zur Erfindung des Penicillins ist es noch etwa 500 Jahre hin«, verdeutlicht Reizammer.

Im Zweikampf entscheidet daher bereits der erste Treffer über Sieg oder Niederlage. Ein Unentschieden gibt es nicht. Auch wenn der Gegner noch unmittelbar danach trifft, haben beide verloren. Denn: »Bei scharfen Waffen hätten in dem Fall auch beide verloren.«

Foto: Pfeiffer

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Wer zuerst trifft, hat gewonnen - aber wenn der Gegner noch nachtrifft, sind beide Verlierer. Foto: Pfeiffer © Pfeiffer
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Konstantin Reizammer © Eva Pfeiffer

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