Kampf den Klischees

Mädchen als Opfer, Jungen als Täter: Wildwasser Gießen nimmt schädliche Geschlechterrollen in den Blick
Gießen . Eigentlich wollte die 15-Jährige sich nur ein kleines Taschengeld verdienen, als sie ein Inserat für einen Schülerjob in einem Kleinanzeigenportal im Internet schaltete. Babysitting vielleicht oder auch Hilfe im Haushalt hatte sie sich vorgestellt. Sage und schreibe 24 Jobangebote erhielt das Mädchen anschließend - doch keines davon war seriös. Stattdessen enthielten alle ausdrücklichen oder andeutungsweise sexuellen Inhalt. Die 15-Jährige wandte sich später an die Wildwasser Beratungsstelle gegen sexuellen Missbrauch in Gießen. Für Beraterin Hanna Smykalla und ihre Kolleginnen sind solche oder ähnliche Schilderungen keine Ausnahme. In dem jüngst veröffentlichten Tätigkeitsbericht 2022 hat Smykalla unter dem Schwerpunktthema »Geschlechterrollen und Gewalt« eine ganze Reihe von Erfahrungen zumeist junger Menschen gesammelt.
Da ist etwa die Jugendliche, die erzählt, wie sie und die übrigen Mädchen in der Klasse von ihrer Lehrerin beim Ausflug ins Freibad aufgefordert worden seien, sich ein T-Shirt überzuziehen - damit die Jungen beim Anblick der nackten Haut nicht »überfordert« seien und »an sich halten« könnten. Oder das Mädchen, das im Unterricht zwischen zwei störende Jungs gesetzt wird, um für Disziplin zu sorgen.
Ängste und Schuldgefühle
Die Zuweisung von Geschlechterrollen, so Smykalla, habe sowohl Auswirkungen auf den Alltag als auch beim Erleben von sexueller Gewalt. Denn während von Mädchen im Alltag erwartet werde, dass sie »brav und adrett« auftreten, sollen sie sich bei einem Angriff wehren und laut sein - andernfalls könne der Übergriff ja wohl nicht gegen ihren Willen geschehen sein. »Mit diesen Gedanken sitzen dann jugendliche Mädchen bei Wildwasser und finden keine Lösung für ihre Schuldgefühle und ihre Ängste vor den nächsten Übergriffen.«
»Geschlechterrollen sind ganz, ganz schädlich«, betont Beratungsstellen-Leiterin Barbara Behnen. Und doch müssen sie und ihre Kolleginnen feststellen, dass spätestens ab der Vorpubertät der Betroffenen alle Geschlechterrollenklischees wirksam werden und auch die Beratungsaufträge dominieren, die durch Eltern oder andere Erwachsene formuliert werden. Bei Präventionsprojekten mit Jungen erhalte Wildwasser stets den klischeehaften Auftrag, deutlich zu machen, dass sie die Grenzen der Mädchen wahren sollten. »Anscheinend werden Jungen stets als Täter gedacht und Mädchen als Opfer.«
Gleichzeitig würden fast alle Aufträge für Projekte mit Mädchen darauf abzielen, diese zu begrenzen: Mädchen sollen sich »weniger riskant verhalten« und etwa bei Internetkontakten, Styling oder Feiern für ihre eigene Sicherheit Sorge tragen. Abends nur mit einem Schlüsselbund in der Hand als Waffe und einem Handy am Ohr das Haus zu verlassen, hätten viele Mädchen bereits verinnerlicht. Eine eigene Sexualität werde Mädchen und Frauen nicht zuerkannt und falls doch qualifiziere sie das nach wie vor schnell als »Schlampe« oder zumindest als »verfügbar«.
Doch auch für Jungen sei eine harte Geschlechterrollenzuweisung schädlich. Auch, weil es ihnen durch das Klischee des »starken Mannes« mitunter schwer falle, sich Hilfe zu holen und anzunehmen. Zudem würden Jungs weitaus seltener an Beratungsstellen verwiesen. »Das Patriarchat ist auch zu Jungen nicht nett«, fasst es Smykalla zusammen.
Und auch wer sich keinem oder nicht seinem biologischen Geschlecht zugehörig fühlt, werde mit den Rollenklischees konfrontiert und versuche manchmal, diese überzuerfüllen. Teils würden Täter gar zu sexueller Gewalt greifen, um die Person in ihren Augen wieder zu einem »echten Mädchen« oder einem »echten Jungen« zu machen.
Neben dem Schwerpunktthema informiert der Tätigkeitsbericht auch wieder über die aktuellen Angebote der Beratungsstelle. 695 persönliche Beratungsgespräche zu 187 Fällen haben die Mitarbeiterinnen im vergangenen Jahr geführt, ein kleiner Rückgang im Vergleich zu den Vorjahren. Hinzu kamen 187 Nachrichten in der Onlineberatung, die seit Oktober 2021 angeboten wird. Die Anonymität und größere Distanz sei für manche Hilfesuchenden eine Erleichterung, hat Beraterin Smykalla festgestellt. Zudem müsse man bei der datensicheren Beratung nicht die Öffnungszeiten beachten, sondern könne sich dann die Sorgen von der Seele schreiben, wenn es gerade akut ist.
Leicht erhöht hat sich die Zahl der Gefährdungseinschätzungen, 219 wurden im vergangenen Jahr bei Wildwasser Gießen durchgeführt. Bei 41 Fällen wurde im Anschluss die Meldung an das Jugendamt empfohlen, bei 163 Fällen eigene Maßnahmen. Bei 15 Fällen lag keine Gefährdung vor.
Selbsthilfegruppe für Männer geplant
Neu seit Ende 2022 ist ein Beratungsangebot speziell für von sexueller Gewalt betroffene erwachsene Männer, das durch das Land Hessen finanziert wird. Dieses landesweite Angebot ist an vier Standorten konzentriert: Wiesbaden, Kassel, Darmstadt und Gießen. Erste Anfragen von Männern habe es bereits gegeben, auch aus anderen Landkreisen. Zudem soll eine moderierte Selbsthilfegruppe gegründet werden. Interessierte können sich direkt an Wildwasser Gießen wenden unter 0641/76545 oder per E-Mail an info@wildwasser-giessen.de.