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»Kann einem schon mulmig werden«

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Strahlenschutzexperte Prof. Joachim Breckow von der THM in Gießen äußert sich zum Angriff auf das ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja und die allgemeine Sicherheit dortiger Anlagen.

Gießen . Die Welt hielt förmlich den Atem an, als eine Rakete der russischen Armee auf dem Gelände des größten ukrainischen Atomkraftwerks (AKW) in Saporischschja einschlug. Getroffen wurde den Berichten nach zwar »nur« ein Trainingsgebäude und es soll weder Todesopfer gegeben haben noch Radioaktivität ausgetreten sein. Doch dass eine solch hochsensible Anlage überhaupt zum Ziel wurde, weckt schlimme Befürchtungen. Wie gut sind Kernkraftwerke gegen einen derartigen militärischen Angriff geschützt? Können die AKWs der Ukraine in puncto Sicherheit überhaupt mit denen im Westen mithalten? Antworten auf diese und weitere Fragen gibt im Gespräch mit dem Anzeiger Prof. Joachim Breckow von der Technischen Hochschule Mittelhessen (THM) und dem dortigen Institut für Medizinische Physik und Strahlenschutz (IMPS). Darüber hinaus ist er Mitglied der Deutschen Strahlenschutzkommission (SSK) und war von 2016 bis 2019 deren Vorsitzender. Er gibt hier seine persönliche Ansicht wieder und spricht nicht für die SSK.

Prof. Breckow, was war Ihre erste Reaktion, als Sie vom Raketeneinschlag beim Atomkraftwerk Saporischschja erfuhren?

Da kann einem schon mulmig werden. Und das zu Recht.

Die Rakete zerstörte ein Ausbildungszentrum für AKW-Fachkräfte: Glauben Sie, das war Absicht, schließlich braucht es gut ausgebildetes Personal, um solche Anlagen sicher zu betreiben?

Sich über das Motiv für dieses Angriffsziel zu äußern, wäre reine Spekulation. Daran möchte ich mich nicht beteiligen. Mir scheint aber, es wäre eine recht subtile Art, einen Schaden an einem AKW herbeiführen zu wollen. Aller Erfahrung nach neigen Militärs nicht zu derartiger Subtilität.

Wie ist die Sicherheit ukrainischer und anderer Kernkraftwerke gegen Einschläge und Explosionen zu bewerten?

Kernkraftwerke sind generell so ausgelegt, dass sie gewissen Schadenseinwirkungen von außen standhalten können. Dies schließt beispielsweise auch Flugzeugabstürze ein, was auch für die Reaktoren in Saporischschja zutrifft. Das heißt aber nicht, dass sie gegen jegliche Arten militärischer Angriffe geschützt sind. Da es so etwas noch nie gegeben hat, fehlt auch die Erfahrung, ob die Reaktoren starken Bomben oder Raketen standhalten würden.

Welcher Teil der Anlage würde bei einem Treffer die schlimmsten Folgen nach sich ziehen?

Es gibt eine große Anzahl verschiedener Szenarien, die zu einer erheblichen Freisetzung radioaktiven Materials führen würden. Dazu gehört beispielsweise die Zerstörung des Reaktorkerns durch Raketenbeschuss, wenn alle weiteren Sicherheitseinrichtungen ebenfalls versagen oder außer Kraft gesetzt werden. Aber auch wenn die Wasserkühlung der Brennelemente zerstört oder längere Zeit unterbrochen wird, kann das verheerende Auswirkungen haben.

Wie steht es um die allgemeine Betriebssicherheit ukrainischer AKWs, auch im Vergleich zu westlichen Anlagen?

Gerade in den letzten Jahren wurde viel in die Verstärkung der Sicherheit der ukrainischen AKWs investiert. Durch entsprechende Nachrüstungen wurde inzwischen ein Sicherheitsstandard erreicht, der durchaus dem der westlichen Anlagen entspricht.

Warum braucht die Ukraine mit ihren nur circa 42 Millionen Einwohnern eigentlich so viele Atomreaktoren?

Meines Wissens gibt es vier AKW-Standorte mit insgesamt 17 Blöcken in der Ukraine. Zum Vergleich: In Frankreich mit etwa eineinhalb mal so vielen Einwohnern gibt es 18 Standorte mit 56 Blöcken. Ob die gebraucht werden, ist eine wichtige energiepolitische Entscheidung, die jedes Land eigenständig entscheiden muss. Deutschland mit etwa doppelt so vielen Einwohnern wie die Ukraine denkt, ganz ohne AKWs auskommen zu können. Und bitte nicht die Ukraine geringschätzen: Sie reden über ein Industrieland!

Was kann die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO) bei alldem tun?

International gibt es ein enges Netz verschiedener Behörden, Institutionen und Gremien, die sich permanent und mit großer Anstrengung der Beobachtung und Auswertung aller relevanten Daten widmen. Dabei spielen vor allem lokale und überregionale Messdaten zur Radioaktivität, Wetterdaten und Modelle zur Ausbreitung eine große Rolle. Angaben von russischer und ukrainischer Seite werden besonders kritisch geprüft. Es kann wohl unterstellt werden, dass beide Seiten massives Interesse daran haben, auch das psychologische Moment auszunutzen, das Nachrichten über Strahlung durch AKWs auslöst, vor allem auch in Deutschland. Aktuelle Informationen zur radiologischen Lage in der Ukraine findet man unter anderem auf den Webseiten des Bundesumweltministeriums und des Bundesamts für Strahlenschutz.

Was hat man aus der Reaktorkatastrophe 1986 in Tschernobyl gelernt, generell und speziell in der Ukraine?

Dieses Ereignis stellt einen tiefen und nachhaltigen Einschnitt in der Debatte zur Kernenergienutzung dar, speziell in Deutschland. Es markierte nicht zuletzt den Aufstieg und die Etablierung der Grünen in unserer Parteienlandschaft. Auch wenn massiv in erweiterte Sicherheitstechnik und Sicherheitskultur investiert wurde, setzte sich eine generell kritische Grundeinstellung zur Kernenergie in Deutschland fest. In anderen Ländern, auch in der Ukraine, sah und sieht es anders aus. Die verbliebenen Blöcke des Reaktors von Tschernobyl wurden erst Ende des Jahres 2000 stillgelegt und es wurden sogar neue AKWs in der Ukraine nach dem Unfall gebaut.

Die russischen Truppen sind bei ihrer Invasion auch durch das Gebiet in der Nähe von Tschernobyl gezogen und haben dort sogar Truppen stationiert: Bringt man dadurch nicht die eigenen Soldaten in Gefahr, für den Rest ihres Lebens gesundheitlichen Schaden zu nehmen?

Man kann sich durchaus in der Nähe des havarierten Reaktors ohne Gefahr aufhalten. Auch wir von der THM waren im Jahr 2002 in der Sperrzone und haben dort Messungen durchgeführt. Im Übrigen glaube ich, auch wenn es zynisch klingen mag, dass Soldaten in diesem Krieg weit größeren Gefahren ausgesetzt sind.

Deutschland hat den Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen. Nun könnten wir diese angesichts des Ukraine-Kriegs und der zunehmenden Energieprobleme wieder gut gebrauchen. Wären Sie dafür, den Betrieb der noch laufenden deutschen Anlagen zu verlängern?

Das ist eine Frage, die über mein Kompetenzgebiet hinausgeht. Meine private Meinung dazu ist: Für einen Wiedereinstieg ist es wohl zu spät. Er würde auch nur noch die restlichen drei noch laufenden Reaktoren betreffen. Wären wir in der Situation vor ein paar Jahren, dann sähe die Sache vielleicht anders aus. Ich vermute allerdings, dass die Mehrheit der Franzosen nicht zuletzt auch aus Gründen des Klimaschutzes ganz froh ist, dass sich ihr Energiesektor zu einem wesentlichen Anteil auf die Kernenergie stützt.

Sieht die Bundesregierung Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung vor?

Es gibt detaillierte Notfallpläne für kerntechnische Unfälle, die auch im Fall einer Zerstörung oder Beschädigung eines ukrainischen AKWs durch Militäraktionen zum Einsatz kommen könnten. Dazu gehören zum Beispiel die Aufforderung, im Haus zu bleiben, oder die Einnahme von Jodtabletten zur Verhinderung von Schilddrüsenkrebs. Die Situation wird sehr genau beobachtet. Zurzeit sieht die Bundesregierung jedoch keine Veranlassung für solche Maßnahmen. Sie warnt insbesondere davor, sich selbständig mit Jodtabletten zu versorgen. Diese bringen aktuell keinen Nutzen und mögliche Nebenwirkungen sind nicht auszuschließen.

Foto: privat

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