Klage über »enorme Nachteile«

Christine Stapf aus Gießen sitzt im Rollstuhl. Sie kritisiert die mangelnde bzw. stark eingeschränkte Barrierefreiheit am Elefantenklo und in der Villa Leutert. Schnelle Lösungen sind nicht zu erwarten.
Gießen. Die Gießener haben sich wohl inzwischen daran gewöhnt, dass die Rolltreppen am Selterstor häufiger mal außer Betrieb sind und das Elefantenklo dann gehend statt stehend erklommen werden muss. Für Christine Stapf ist das ein »Luxusproblem«. Seit 55 Jahren sitzt sie im Rollstuhl, die Überführung an der Frankfurter Straße ist seit jeher eine Hürde, die bloß eingeschränkt überwunden werden kann: nämlich nur, wenn Karstadt geöffnet hat. Und selbst in diesem Fall sei nicht garantiert, dass der Aufzug auf der gegenüberliegenden Seite funktioniert. Dann heißt es: die komplette Strecke retour. Für die 68-Jährige zeigt dieses Beispiel, dass man in Gießen »als Mensch mit Handicap noch allzu oft behindert« werde. Auch die Villa Leutert ist daher für sie »ein rotes Tuch«. Im Rathaus sind sich die Verantwortlichen des Dilemmas bewusst. In den Gremien werde immer wieder darüber diskutiert. »Schnelle Lösungen«, so Stadtsprecherin Claudia Boje auf Anfrage des Anzeigers, gebe es allerdings aus bekannten Gründen nicht.
Am E-Klo scheiden sich die Geister. Nicht wenige würden es lieber heute als morgen abreißen. Klar ist: Wie bei der Villa Leutert handelt es sich um ein Relikt aus Zeiten, »in denen barrierefreie Planungen von öffentlichen Gebäuden nicht auf der Tagesordnung standen« und in denen es vor allem galt, die Stadt autogerecht umzugestalten, erinnert Claudia Boje. Für Christine Stapf sorgt es trotzdem sichtlich für Verärgerung, dass die Passierbarkeit mit Rollstuhl, Rollator oder Kinderwagen abhängig ist von den Öffnungszeiten eines Geschäftes. Bereits die Corona-bedingten mehrwöchigen Schließungen in der Hochphase der Pandemie bedeuteten für die 68-Jährige, bei Wind und Wetter längere Umwege bewältigen zu müssen. Und die aktuelle Ungewissheit, was die Zukunft von Karstadt betrifft, weckt bei ihr nicht gerade Zuversicht, dass sich die Situation verbessert. Wenngleich bei einem Aus für den Standort im Seltersweg der vollständige Wegfall einer Querungsmöglichkeit für Rollstuhlfahrende bei weitem nicht die einzige schlechte Nachricht wäre.
Was Christine Stapf ebenfalls mächtig stört, ist die Hygiene im Aufzug an der Ecke Südanlage/ Frankfurter Straße. Sofern dieser nicht defekt sei, »steht man nicht selten im Dreck und es stinkt zum Himmel«. Eine krankengymnastische Behandlung im Gesundheitszentrum nebenan habe sie daher »nach vielen Jahren beendet, da ich diese enormen Nachteile nicht weiter hinnehmen will«. Dabei werde doch eigentlich mit der 2008 in Kraft getretenen Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen der Zweck verfolgt, »den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern«.
»Reparaturanfällig«
Insbesondere die »Problematik am E-Klo« beschäftige den Behindertenbeirat immer wieder, versichert der städtische Behindertenbeauftragte Samuel Groß. Dass bisweilen auf die Ampelanlagen in der Nähe ausgewichen werden müsse, sei »sicher nicht optimal«, ergänzt Claudia Boje. »Heute würde das so natürlich nicht mehr gebaut.« Und leider stimme es auch, dass der Aufzug »durchaus reparaturanfällig ist«. Circa einmal pro Monat komme es zu entsprechenden Ausfällen, für eine Anlage im öffentlichen Außenbereich sei dies jedoch keineswegs unüblich. »Sobald uns ein Stillstand gemeldet wird, reagieren wir unverzüglich und beauftragen die Wartungsfirma mit der Reparatur. Diese Firma wird innerhalb von maximal 12 bis 24 Stunden tätig und behebt den Schaden umgehend«, erläutert die Stadtsprecherin. Gleichzeitig weist sie darauf hin, dass 80 Prozent dieser Ausfälle keine Materialursache hätten, sondern vielmehr »nutzerbedingtem Fehlverhalten« wie Notbefreiungen, Beschädigungen oder Vandalismus zuzuschreiben seien.
Hinsichtlich der Überwachung und Reinigung betont Claudia Boje, dass täglich kontrolliert und grober Schmutz entfernt werde. Einmal pro Woche werde die Kabine sauber gemacht. »Dies bedeutet: Das Bauwerk bringt Pflegebedarf mit sich, dem wir uns stellen.«
Regelrecht »abgefertigt« fühlt sich Christine Stapf an der Villa Leutert, die das Standesamt und das Ortsgericht Gießen I beherbergt und nur über eine Treppe mit mehreren Stufen zu erreichen ist. Menschen mit Behinderung, die dort etwas zu erledigen haben, können eine daneben platzierte - nicht überdachte - Klingel betätigen. »Ich habe einmal getestet, wie das vonstatten geht: Es wurde oben die Eingangstür geöffnet und runtergerufen, was ich denn wolle. Da kommt man sich schon unmenschlich behandelt vor«, schildert Stapf, die selbst 40 Jahre als Verwaltungsfachangestellte bei einer Behörde gearbeitet hat. Ihre standesamtliche Hochzeit habe sie seinerzeit übrigens nach Staufenberg verlegen müssen, weil in Gießen der barrierefreie Zugang fehlte. »Das war schon enttäuschend.«
Trauungen im Hermann-Levi-Saal
Bereits 2014 habe die damalige Oberbürgermeisterin Dietlind Grabe-Bolz in einem Brief an sie versichert, dass »intensiv« nach einer Lösung gesucht werde. Die vermisst die Gießenerin aber nach wie vor. Damit scheint sie nicht allein zu sein. »Zur mangelnden Barrierefreiheit habe ich schon einige Anfragen bekommen«, bestätigt Samuel Groß. Zwar können Trauungen mittlerweile barrierefrei im Hermann-Levi-Saal vollzogen und generell für standesamtliche Angelegenheiten Termine im Rathaus vereinbart werden. Dennoch sei ein Zugang zur Villa Leutert ohne Hindernisse selbstverständlich wünschenswert und werde weiterhin angestrebt. Allerdings sei auch der Denkmalschutz zu beachten, schränkt der Behindertenbeauftragte ein. Und das wiederum verlängere und intensiviere die Planungen. Kornelia Steller-Nass, Vorsitzende des Gießener Arbeitskreises für Behinderte, hegt zumindest die Hoffnung, »dass sich endlich etwas bewegt«. Zu vernehmen sei jedenfalls, »dass der Denkmalschutz seine verkrusteten und überholten Ansichten ändern wird«, betont sie gegenüber dieser Zeitung. Denn letztlich habe sich auch die Gesellschaft gewandelt. »Wir leben nicht mehr in einer fürsorglichen Rolle, sondern es geht um Selbstbestimmung und Selbstständigkeit.«
Was aber ist seit dem Schreiben der OB von vor neun Jahren tatsächlich passiert? Bisher seien »verschiedene Optionen der Erschließung unter Beteiligung der Unteren Denkmalbehörde geprüft« worden, so Claudia Boje. Manche Varianten »sind verworfen worden, andere werden weiter geplant«. Auf jeden Fall sei dies ein umfangreiches und anspruchsvolles Unterfangen, weil ein Gebäude innen ebenso barrierefrei nutzbar sein müsse und die Villa Leutert obendrein ihre vielfach geschätzte Anmutung beibehalten solle. »Das sehen wir aber nicht als Widerspruch - insofern ist der Denkmalschutz kein Hindernis, sondern eine Herausforderung, Bewahrenswertes für alle erlebbar zu machen.«
Christine Stapf bleibt dennoch skeptisch: »Ich glaube nicht, dass ich es noch erleben werde, dass Menschen mit Handicap hier alles zugänglich sein wird.« Umso bemerkenswerter, dass sie das Stadttheater als das einzige öffentliche Gebäude in Gießen erachtet, »mit dem ich zufrieden bin«.
