»Kombination hatten wir noch nie«

Am Uniklinikum Gießen müssen derzeit ungewöhnlich viele Kinder mit Atemwegsinfektionen, unter anderem wegen Bronchiolitis (RSV), behandelt werden. Interview mit PD Dr. Clemens Kamrath.
Gießen . Die Kinderklinik-Stationen großer Krankenhäuser sind in diesen Wochen stark belegt, so auch am Gießener Uniklinikum (UKGM). Einen großen Anteil daran hat eine Kinderkrankheit, von der in der Öffentlichkeit bisher nicht allzu viel bekannt war: die Bronchiolitis, eine Infektion der unteren Atemwege von Säuglingen und Kleinkindern, die durch das Respiratorische Synzytial-Virus (RSV) verursacht wird. Das Problem sei aber nicht allein dieser Erreger, sondern die Kombination mit einer ungewöhnlich frühen Influenzasaison und weiterhin vorkommenden Covid-19-Fällen. Wenngleich letztere auf einem niedrigeren Niveau als noch vor ein paar Monaten lägen, berichtet Privatdozent Dr. Clemens Kamrath (UKGM). Im Gespräch mit dem Anzeiger gibt der Leitende Oberarzt der Kindernotfallambulanz einen Einblick in die derzeitige Situation auf den Stationen und erklärt auch, wie mit Bronchiolitis und RSV umzugehen ist.
Dr. Kamrath, wie viele kleine Patienten liegen zurzeit mit Atemwegsinfektionen im Uniklinikum und wie hat sich dies in den vergangenen Wochen entwickelt?
Wir sehen uns mit einer stetig zunehmenden Patientenzahl konfrontiert. Alle müssen gemäß ihrer jeweiligen Infektion von anderen isoliert untergebracht werden. Diese Kombination hatten wir in der Kinderklinik noch nie und dies stellt unsere Ärztinnen und Ärzte sowie die Pflegenden vor extreme Herausforderungen. Allein am Mittwoch, dem 7. Dezember, behandelten wir insgesamt 23 Kinder mit Atemwegsinfektionen. Davon 17 mit RSV, fünf mit Influenza und ein Kind mit RSV und Influenza. Ein Patient davon muss auf der Intensivstation behandelt werden.
Gibt es in Ihrem Haus noch freie Kinder-Betten in dem stark betroffenen Bereich?
Wie wir es gleichermaßen aus anderen hessischen Kinderkliniken hören, ist auch bei uns die Lage angespannt und die Bettenkapazität zeitweise nahezu ausgeschöpft. Wir bemühen uns täglich aufs Neue mit teils hohem organisatorischen Aufwand, all die kleinen und jugendlichen Patienten zu versorgen, die unsere medizinische Hilfe benötigen.
Wie gehen Sie organisatorisch mit der Situation um?
Neben dem allgemeinen Personalmangel in der Pflege wird auch bei uns die Situation durch einen hohen Krankenstand im ärztlichen wie pflegerischen Bereich verschärft. Der Grund dafür ist ein hohes Infektionsaufkommen. Wenn die Zahl der Patienten die vorhandene Kapazität übersteigt, werden beispielsweise Zwei-Bett-Zimmer in Drei-Bett-Zimmer umgewandelt oder geplante stationäre Aufnahmen verschoben, wenn es medizinisch vertretbar ist. Auch in der Notaufnahme können kleine Patienten durch ein stationäres Bett über Nacht adäquat versorgt werden. Wenn all diese Kapazitäten ausgeschöpft sind, kann es zu Verlegungen in andere Kinderkliniken kommen.
Wurde am UKGM wie an anderen Kliniken in den letzten Jahren die Zahl der Kinderbetten abgebaut?
Nein, ganz im Gegenteil. So sind beispielsweise Betten in der Kindernotfallstation hinzugekommen, die uns in der jetzigen Situation sehr helfen. Außerdem sollen in der vierten Etage Räumlichkeiten für zusätzliche Kinderbetten umgebaut werden.
Überrascht Sie die hohe Zahl an RSV- und Bronchiolitis-Fällen?
Diese bei Säuglingen und Kleinkindern bis ins Alter von drei Jahren auftretende Erkrankung müssen fast alle einmal in den ersten Lebensjahren durchmachen. In diesem Jahr sind es aber einfach mehr und die Influenza-Welle beginnt zudem ungewöhnlich früh. Sonst sind es zu dieser Jahreszeit deutlich weniger stationäre Fälle. Hinzu kommt, dass durch die in der Corona-Zeit ausgebliebenen Kontakte mehrere Jahrgänge zusammenkommen.
An welchen Symptomen ist die Bronchiolitis bei Kleinkindern zu erkennen?
Die Kinder atmen angestrengt, die Atemfrequenz ist schneller und sie stöhnen häufig beim Atmen. Manche sind fiebrig oder husten, oftmals trinken sie auch schlecht.
Wie läuft die Diagnostik durch den Arzt ab?
Wir beurteilen die Atemfrequenz und den Flüssigkeitshaushalt. Außerdem hören wir die Lunge ab, um festzustellen, ob die Atemwege verengt sind, und messen die Sauerstoffsättigung im Blut.
Wie werden die Kinder therapeutisch versorgt?
Die Behandlung erfolgt bei ihnen symptomatisch. Je nachdem mit Sauerstoff- und Flüssigkeitsgabe, Nasentropfen zur Abschwellung, Inhalationstherapie oder der Gabe von Kortison.
Wie lange dauert es in der Regel bis zur Heilung?
Die Kinder liegen ein paar Tage stationär. In dieser Zeit wird ihre Atmung allmählich besser. Sie müssen aber für die Entlassung auch ausreichend trinken.
Gibt es eine Impfung gegen den RSV-Erreger?
Ja, sie erfolgt aber bei Frühgeborenen und Kindern mit einem höheren Risiko für eine schwere Krankheitsentwicklung oder Vorerkrankungen. Ihnen wird alle vier Wochen ein Passivimpfstoff bestehend aus einem Antikörper gegen RSV verabreicht. In der Forschung ist zudem derzeit ein neuer Impfstoff in Entwicklung, der schon Schwangeren gegeben werden kann, bei deren werdendem Kind dann ein sogenannter Nestschutz aufgebaut wird.
Im Gegensatz zum UKGM verfügen das Evangelische Krankenhaus Mittelhessen, das St. Josefs Krankenhaus-Balserische Stiftung und die Asklepios Klinik Lich über keine separaten Kinderstationen. Demnach findet an allen dreien keine Akutversorgung von RSV- und Bronchiolitis-Fällen bei Kindern statt.