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Zwar führt ein barrierefreier Zugang bis zum Haupteingang des Stadttheaters, doch dann ist Schluss für Rollstuhlfahrer. Das moniert nicht nur der städtische Behindertenbeauftragte Samuel Groß. Foto: Schäfer

Info und Hilfe

Kompass für drängende Fragen

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In Gießen ist die Neuauflage der »i-Börse« für Menschen mit Behinderungen vorgestellt worden. Die Botschaft ist klar: Inklusion müsse auch gelebt werden.

Gießen. Die wenigsten Menschen sind mit Behinderungen geboren. Ein Schicksalsschlag in Form eines Unfalls kann jeden unvermittelt und unvorbereitet treffen. Gesundheitlich kann es jedoch auch schleichend abwärts gehen. Eine schlimme Krankheit kann zu bleibenden Behinderungen führen - sei es körperlich oder auch geistig. Für all diese Betroffenen und deren Angehörige wurde in einem Pressegespräch eine Broschüre vorgestellt. Nach vierjähriger, auch durch Corona bedingter Pause beinhaltet sie in sechster Auflage als »i-Börse« vielerlei Informationen als Hilfestellung. Präsentiert wurde die neue Ausgabe von dem städtischen Behindertenbeauftragten Samuel Groß, der Vorsitzenden des Arbeitskreises für Behinderte Kornelia Steller-Nass und dem Sozialdezernenten Francesco Arman.

In einer Auflage von 1000 Exemplaren liegt die »i-Börse« in vielen Apotheken und Arztpraxen aus und kann auch im Stadtbüro mitgenommen werden. Barrierefrei ist der Inhalt auch im Internet unter: www.giessen.de/menschen-mit-behinderung zu finden. Dort gibt es auch eine barrierefreie Version für blinde und sehbehinderte Menschen dank des Zentrums für blinde und sehbehinderte Studenten an der THM (BLiZ).

»Eine plötzliche Behinderung stellt für den Betroffenen und seine Angehörigen meist einen Schock dar«, sagte Groß. Die bereitgestellte Broschüre sei ein erster Kompass für die drängenden Fragen: Was gibt es für Angebote? An wen kann ich mich wenden? Steller-Nass habe mit dem Arbeitskreis für Behinderte in den vergangenen Jahren Pionierarbeit geleistet, betonte er. Neu in dieser Ausgabe seien die Angebote in den Sparten Sport und Kultur. Groß wies auf das neue Büro für Integration und Inklusion hin, das die Lebenshilfe in der Sonnenstraße ins Leben gerufen hat.

Auf 40 Seiten sind in der »i-Börse« von der Erklärung des Wortes Behinderung über Rehabilitation und deren Träger, Geltendmachung von Ansprüchen, Mobilität, frühe Hilfe (für Kinder), Beratung, Betreuung und Versorgung bis hin zu Sport und Freizeit reichlich nützliche Hinweise zu finden.

Arman sieht »viel Herzblut von Groß und Steller-Nass« in der Broschüre stecken. Inklusion sei für ihn selbst kein Fremdwort. Er sei bemüht, als Sprachrohr diese Belange in die Gesellschaft hineinzubringen. Umso mehr Gehör gefunden werde, umso mehr werde bewirkt. »Wir sind noch nicht angekommen, erst auf dem Weg.« Inklusion müsse auch gelebt werden. Steller-Nass bemerkte, dass die Broschüre von Organisationen und Firmen finanziert worden sei, die den Druck einer solchen als hilfreich und damit wichtig erachten. Bewusst habe man als Titelbild eine Ansicht des Stadttheaters gewählt.

Worten müssen Taten folgen

»Bereits vor 15 Jahren, anno 2008, habe ich mit dem Seniorenbeirat vor dem Stadttheater gestanden, um dort barrierefreien Zugang zu fordern. Ein Jahr später, 2009, hat das Stadtparlament beschlossen, der Behindertenkonvention zuzustimmen.« Was in dem speziellen Fall »Aufzug am Theater« geworden ist? Laut Groß soll es angegangen werden. »Die Stadt hat immer sehr offene Ohren für meine Belange«, sagte er. Aber selten folgen Taten. Als Beispiel für fehlende Umsetzung von Versprechungen wurde der Weihnachtsmarkt ins Feld geführt. Jedes Jahr werde zugesagt, dass es »besser wird«. Und jedes Jahr würden erneut Geh- und Sehbehinderte von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sechs lange Wochen ausgegrenzt, faktisch ausgesperrt. Die vielen Kabelbrücken seien für Menschen im Rollstuhl und mit Rollator kaum zu überwinden, sodass viele Gehbehinderte zu Hause blieben. Und die Blindenleitspuren seien an »ganz vielen Stellen« durch Buden, Verzehrstische und Stromkästen zugestellt. Einig war man sich, dass Schönredereien Taten folgen müssten.

Das anschließende Pressefoto sollte mit dem Hintergrund des Stadttheaters auf dem Balkon des Stadtverordnetensitzungssaales »geschossen« werden. Allerdings wurde an Ort und Stelle festgestellt, dass der nicht barrierefrei ist. Schon hohe Stufen befinden sich links und rechts kurz hinter der Eingangstür. So musste Groß in seinem Rollstuhl einen Umweg über den Seiteneingang nehmen. Doch auch auf den Balkon zu gelangen, war für ihn nicht möglich. Eine Stufe war im Weg und zu hoch. So wurde umdisponiert und direkt vor dem Stadttheater fotografiert. Hier kann man zwar durch seitliches Umfahren mit dem Rollstuhl oder Rollator zum Haupteingang gelangen. Doch dann ist Schluss. Ein Mobilitätsbehinderter wie der städtische Behindertenbeauftragte Samuel Groß wird sich noch eine ganze Weile ausgegrenzt fühlend gedulden müssen, bis es ihm und seinesgleichen durch einen Aufzug ermöglicht wird, hoch in den Theatersaal gelangen zu können - zur gesellschaftlichen Teilhabe am kulturellen Leben.