Krankheit und Metapher

Gießen . Symptome psychischer Erkrankungen suchen Betroffene teilweise ihr Leben lang heim. In ihrem Debütroman »Wir wissen wir könnten und fallen synchron« lässt Yade Yasemin Önder das Symptom ihrer Protagonistin gleich hinter sich auf der Rückbank eines Autos Platz nehmen.
Am Mittwochabend stellte Önder im Rahmen einer Lesung des Literarischen Zentrums Gießen (LZG) ihr Erstlingswerk in der Anschlussverwendung vor. Moderiert wurde die Veranstaltung von Sandra Binnert und Diana Hitzke. Önder, die sich in der Vergangenheit eher mit Theater beschäftigt hatte, erklärte, wie es zu diesem Buch kam: »Ich hatte gar nicht vor, einen Roman zu schreiben. Ich habe mich dann irgendwann dazu überredet«. Ihr Buch baut auf dem Text »Bulimieminiaturen« auf, für den sie unter anderem den Preis in der Kategorie Prosa beim Nachwuchs-Literaturwettbewerb Open Mike 2018 gewann.
Thematisch setzt sich Önder in ihrem Coming-of-Age-Roman gleich mit mehreren schwierigen Themen auseinander: Verlust des Vaters, Rassismus, Sexualität, familiäre Zerrissenheit und psychische Erkrankungen, hier in Form von Bulimie. Das »surreale Setting« und die formenspielerische Sprache des Romans kämen dabei aus ihrer Erfahrung mit dem Theater, berichtete sie.
Ihren Fokus auf das Thema Bulimie erklärt die 1985 in Wiesbaden geborene Önder dabei auf verschiedene Weise: »Es gibt nur wenige Texte, die das Thema Bulimie aufgreifen.« Es habe aber auch eine literarische Qualität, wie alle Krankheiten auch eine metaphorische Bedeutung hätten. Im Falle der Bulimie läge etwa eine Allegorie auf unsere kapitalistische Gesellschaft nahe: Dabei seien Konsumgüter »wie eine bunte Wundertüte, die man in einem bulimischen Anfall verschlingen würde.« Bulimie sei durchaus eine tödliche Krankheit, mahnt Önder. Wie ambivalent dabei das Verhältnis zur Nahrung ist, verdeutlicht ihre Ich-Erzählerin bei einem Essen im Restaurant: »Manchmal breche ich in Tränen aus, wenn der Teller kommt.«
Mit ihrem aus der Türkei stammenden Vater und einer deutschstämmigen Mutter begegnet die Ich-Erzählerin dabei Rassismus innerhalb der eigenen Familie. Ihr Vater habe »in eine Familie hineingeheiratet, die mit vielen Rassismen hantiert.« Nach dem Tod des Vaters sind es die deutschen Großeltern, die versuchen, ihre vermeintlich auf Abwege gekommene Tochter wieder in ihrem Sinne zurückzugewinnen.
Beim Thema Sexualität nutzt Önder stilistisch die ganze Bandbreite ihr zur Verfügung stehender Stilmittel: So beschreibt ihre pubertierende Protagonistin einen 0190er-Telefonstreich mit einer zwischen Lust, Belustigung und Ekel schwingenden Erregung, wohingegen die erwachsen gewordene Ich-Erzählerin nur lapidar anmerkt: »Wir schliefen zehnmal miteinander.« Wie sie dabei auf solche Ideen wie den Telefonstreich gekommen sei? »Das sind meine echten Erfahrungen«, konstatiert Önder. Ihr Roman hat in seinem Körperbild auch eine zeitgeschichtliche Dimension. Das Aufwachsen in den 90ern beschreibt sie als »total Fun«, wobei dieses Jahrzehnt auch durchaus problematisch gewesen sei, gerade was Körperbilder und Emanzipation betrifft. Besonders angetan haben es Önder dabei die Spice Girls. Die Mitglieder der britischen Girl Group seien einerseits emanzipiert gewesen, »andererseits konnten sie nicht singen, dass sie Sex wollen.« Auch das Verhältnis zu Menschen mit Essstörung sei in den 90ern ein anderes gewesen: »Klar wurde auch Helmut Kohl gedisst, aber eine Frau mit solcher Figur wäre damals nie in so eine Machtposition gekommen«, erklärt Önder.
Dabei ist ihr Buch trotz solcher ernsten Themen durchaus lustig. Mehrmals musste das Publikum laut lachen. Es sei ein »trauriger und schwerer Text, aber auch witzig,« meint die Autorin. »Es muss diesen Humor geben, als Ausgleich, als Balance.«
