KZ-Haft als Strafe für bittere Armut

Heute ist der 80. Jahrestag der Deportation von Gießener Sinti und Jenischen nach Auschwitz. Das unsägliche Leid von Hedwig Kersten aber begann bereits im Sommer 1940.
Gießen. Der 16. März 1943 war ein Dienstag. Bei milden Temperaturen zog es die Bauern der Umgegend nach draußen, um die Felder für die Aussaat vorzubereiten. Der VfR Reichsbahn 08 Gießen spielte dank des Sieges vom Wochenende gegen die Sportgemeinde Büdingen weiter um die Kriegsmeisterschaft in der Gruppe Wetterau. Und nach der Niederlage bei Stalingrad rühmten die Zeitungen in großen Lettern den »todesmutigen Einsatz« bei der Rückeroberung der strategisch wichtigen Stadt Charkow durch die »Leibstandarte SS Adolf Hitler«. Für mindestens 15 Mitglieder der Familie Klein aber begann rund um diesen schönen Märztag vor genau 80 Jahren die Katastrophe. Die zwei Männer, drei Frauen und zehn Kinder - das jüngste gerademal zwölfeinhalb Monate alt - wurden vom Gießener Güterbahnhof aus nach Darmstadt gebracht und von dort mit einem Sammeltransport ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau verschleppt. »Abschiebung von Zigeunermischlingen in ein polizeiliches Arbeitslager« lautete dafür die offizielle Anweisung der Kriminalabteilung der Gießener Polizei. Das belegt die Deportationsliste, die im Stadtarchiv überdauert hat und das Datum dieses Dienstags trägt.
Darauf verzeichnet sind allerdings nur 14 Namen. Den achtjährigen Ferdinand Klein hatten die angeblich so peniblen Nazi-Schergen nicht notiert. Getötet haben sie den Jungen dennoch - ebenso wie seine Mutter Antonie Klein und die drei Geschwister. Knapp zwei Monate später wurden auch sechs Angehörige der Sinti-Familie Mettbach sowie die neunjährige Anna Klein ins sogenannte »Zigeunerlager« verfrachtet. Das Mädchen war an Diphtherie erkrankt und befand sich am 16. März »in Klinikbehandlung«. Die Nationalsozialisten haben also gewartet, bis die Kleine gesund war, um sie erst dann in den Tod zu schicken. Ob sie ihre Eltern Heinrich und Martha Klein sowie die Geschwister, die sich zu den Jenischen zählten, nochmals getroffen hat, ist ungewiss.
»Auschwitz-Erlass« von Himmler
Diese Transporte waren kein Einzelfall. Vielmehr ereigneten sich im Frühjahr 1943 wahre Verhaftungswellen von Angehörigen der Minderheit im ganzen Deutschen Reich. Mit seinem »Auschwitz-Erlass« hatte Heinrich Himmler am 16. Dezember 1942 nämlich angeordnet, alle »Zigeuner« und »Zigeunermischlinge« nach bestimmten Richtlinien auszuwählen und in einer Aktion von wenigen Wochen Dauer in ein Konzentrationslager einzuweisen. Deshalb gibt es - allerdings erst seit einigen Jahren - zwischen Februar und Mai in zahlreichen Städten Veranstaltungen zum Gedenken an die verschleppten und ermordeten Sinti, Roma und Jenischen - seit dem 16. März 2012 auch in Gießen. Ausgangspunkt dafür war ein Porträt über die Sintezza Anna Mettbach, das am 2. August 2011 - zum Jahrestag der Liquidierung des »Zigeunerlagers« in Auschwitz-Birkenau - im Anzeiger erschienen ist. Und auch zum 80. Jahrestag der Deportation der Gießener Sinti und Jenischen lädt die Stadt heute um 17 Uhr zu einer Stunde der Erinnerung in den Hermann-Levi-Saal ein.
Doch nicht erst im März und Mai 1943 wurden als »Zigeuner« und »Zigeunermischlinge« ausgegrenzte Menschen aus Gießen in deutschen Konzentrationslagern interniert. Hedwig Kersten erlitt dieses grauenhafte Schicksal schon im Sommer 1940. Ihre Heimatstadt hat sie als Opfer der mörderischen Rassenpolitik der Nationalsozialisten bislang indes kaum wahrgenommen - obwohl sie nach Ende des Zweiten Weltkrieges von der Betreuungsstelle zunächst recht schnell als rassisch Verfolgte anerkannt worden war. Ihr unsägliches Leid soll aus Anlass der öffentlichen Gedenkstunde nun dem Vergessen entrissen werden.
Hedwig Kersten war eine zierliche, kleingewachsene Frau mit blau-grauen Augen und dunkelblonden, kinnlangen Haaren. Diese Informationen verrät die »Personenbeschreibung« auf dem »Meldeblatt für die polizeiliche Registrierung und die Ausstellung einer deutschen Kennkarte« vom 9. Dezember 1946. Selbst auf dem dazugehörenden Passfoto in schwarz-weiß wirkt die 28-Jährige überaus blass, ihr trauriger Blick geht starr in die Ferne, die Lippen sind zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Das vermag nicht zu überraschen, schließlich hat die junge Mutter viereinhalb Jahre in Konzentrationslagern verbringen und als Zwangsarbeiterin Frondienste leisten müssen.
Doppelte Ausgrenzung
Ein Unglück musste Hedwig Kersten bereits 1936 verkraften, als ihr erster Sohn nach drei Monaten verstarb. Die Kindheit ihrer beiden Nächstgeborenen mitzuerleben, war ihr verwehrt. Womöglich lassen sich längst die Anzeichen ihrer schweren Erkrankungen erkennen - Herz und Nieren waren massiv angegriffen, die diagnostizierte Tuberkulose wird für Schmerzen in der Lunge und Atemnot gesorgt haben. Trotzdem durfte sich die junge Frau mit ihrem Ehemann Walter nach einem weiteren Sohn noch über die Geburt von drei Töchtern freuen. Dann aber gingen ihre Kräfte durch die Nachwirkungen der langen KZ-Haft rasend schnell zu Ende, der Aufenthalt in mehreren Sanatorien konnte nicht mehr helfen. Hedwig Kersten starb am 13. Februar 1951 in der Landeslungenheilanstalt Heppenheim - im Alter von nur 32 Jahren.
Aus der Wiedergutmachungsakte im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden ergibt sich, dass die nur 1,56 Meter große Frau am 5. August 1940 ins KZ Ravensbrück »verschubt« wurde. Ein Dokument aus den Arolsen Archives - dem früheren Internationalen Suchdienst - wiederum belegt, dass sie von dort am 19. Januar 1945 ins KZ Flossenbürg, Außenstelle Dresden (Universelle), zur Zwangsarbeit verschleppt wurde. Die Inhaftierungsbescheinigung weist zudem aus, dass die Gießenerin gleich doppelt stigmatisiert worden war: als »Zigeunerin« und als »asozial«.
Ihre Wiedergutmachungsakte, die in einer erschreckenden inhaltlichen Kargheit ohnehin kaum Einzelheiten über Hedwig Kersten oder ihre Inhaftierung im KZ offenbart, liefert keine direkten Hinweise auf den Grund für Festnahme und Deportation. Rückschlüsse erlaubt derweil ein »Auszug aus dem Strafregister der Staatsanwaltschaft« vom 31. Januar 1951. Darin sind drei Verurteilungen aufgeführt - allesamt infolge von Bagatelldelikten in den Jahren 1936, 1938 und 1939. Denn wegen dreimaligen Bettelns, Hausierens ohne Erlaubnis sowie eines Diebstahls verhängte das Amtsgericht jeweils wenige Tage Haft.
Tatsächlich wurden als eine Begründung für die KZ-Haft von »asozialen« Frauen vermeintlich »verbrecherische« Delikte herangezogen, die »vor allem im Bereich der Kleinkriminalität anzusiedeln sind«, schreibt die Historikerin Christa Schikorra. Bittere Armut dürfte Hedwig Kersten also viereinhalb Jahre KZ eingebracht haben.
Generell lässt sich festhalten, dass die »Asozialen« im Nationalsozialismus keine eindeutig umrissene Gruppe darstellten, der Begriff blieb bewusst undefiniert und damit offen für Ausgrenzung und Verfolgung. «›Asozial‹ war eine von außen auferlegte, extrem abwertende Sammelbezeichnung für abweichendes Verhalten sehr unterschiedlicher Form. Niemand bezeichnet sich selbst als ›asozial‹«, so der Historiker Wolfgang Ayaß, der grundlegende Arbeiten zu dem Thema verfasst hat. In den Jahren der NS-Diktatur seien darunter Bettler, Landstreicher, Obdachlose, Prostituierte und ihre Zuhälter subsumiert worden - aber eben auch »Zigeuner«, Fürsorgeempfänger und Kleinkriminelle. Als Opfergruppe wurden die als »asozial« verunglimpften Menschen bislang aber kaum beachtet. Zumal sie erst im Februar 2020 vom Deutschen Bundestag als NS-Verfolgte anerkannt wurden. Zu verdanken ist das vor allem der Initiative des emeritierten Frankfurter Pädagogen Frank Nonnenmacher, der inzwischen zur Gründung des Verbands der »Nachkommen der verleugneten Opfer des Nationalsozialismus« aufgerufen hat.
Ehemann kämpfte an der Front
Wo sich Hedwig Klein und der Lagerarbeiter Walter Ernst Kersten kennengelernt haben, ist nicht bekannt. Aber es scheint, dass sie eine gemeinsame Zukunft planten. Nach dem Tod des Erstgeborenen kam im Sommer 1937 eine Tochter zur Welt, fast genau ein Jahr später erneut ein Sohn. Geheiratet haben die beiden, die damals an der Kläranlage wohnten, im Dezember 1939, der junge Ehemann war zu diesem Zeitpunkt als »Oberschütze im Felde«. Die Nationalsozialisten hatten also keinerlei Skrupel, zwei kleinen Kindern, deren Vater an der Front im Zweiten Weltkrieg kämpfte, auch noch die Mutter zu nehmen und sie ins KZ zu verschleppen. Laut der Steuerkarte von Walter Kersten wurden die beiden danach von ihrer Großmutter Luise Klein betreut.
Das Konzentrationslager Ravensbrück bei Fürstenberg an der Havel wurde am 15. Mai 1939 offiziell eröffnet und war zunächst für maximal 3000 weibliche Häftlinge konzipiert. Während des fast sechsjährigen Bestehens waren dort über 120 000 Frauen inhaftiert.
Insbesondere in den ersten zwei Jahren wurden die Häftlinge für den Aufbau und die Vergrößerungsarbeiten des Lagers eingesetzt, schon dabei mussten sie schwerste körperliche Tätigkeiten verrichten. Welche Aufgaben die Nazis der jungen Mutter aus Gießen zuwiesen, lässt sich nicht rekonstruieren.
Bomben auf Dresden überlebt
Die Universelle Maschinenfabrik in Dresden, in der Hedwig Kersten Mitte Januar 1945 ankam, war ein Außenlager des KZ Flossenbürg. Das 1878 gegründete Unternehmen engagierte sich ursprünglich in der Tabakindustrie. Während des Zweiten Weltkrieges wandelte sich die Universelle - wie viele andere Firmen - zum Rüstungsbetrieb. Montiert wurden Scheinwerfer, Teile für Flugzeugmotoren und Torpedos sowie Richt- und Peilgeräte.
In der Zwangsarbeit erlebten die drangsalierten Frauen den dramatischen Bombenangriff auf Dresden: Das Werk wurde völlig zerstört, die meisten Häftlinge wurden getötet. Verschiedenen Aussagen zufolge überlebten zwischen neun und 150 Frauen. Unter ihnen Hedwig Kersten. Von dieser tödlichen Gefahr ist in ihrer Entschädigungsakte ebenfalls keine Rede, auch nicht davon, wie sie zurück in ihre Heimatstadt und zu ihrer Familie gelangte. Dafür wird nur zu deutlich, dass sie zum Zeitpunkt der Antragstellung gesundheitlich wohl schon massiv angeschlagen war. Anfang des Jahres 1950 diagnostizierte ein Arzt eine »offene aktive Lungentuberkulose«. Im April 1950 wurde sie in die Lungenheilanstalt »Am Knüll« gebracht und in »Asylierung« - also strenger Isolierung - gehalten. Hedwig Kersten ist von dort alsbald heimgekehrt. Auch eine weitere Unterbringung in Reichelsheim brach sie ab. Auf die Idee, dass die Mutter einfach nur zurück zu ihren Kindern und nicht mehr eingesperrt sein wollte, ist keiner der Behördenmitarbeiter gekommen. Die Sprache der Schreiben ist abfällig, entwertend und vorwurfsvoll. Auf ihre Geschichte als KZ-Opfer wird an keiner Stelle eingegangen, dafür aber erneut NS-Jargon verwendet.
Die Wiedergutmachungsakte umfasst rund 120 Seiten - vor allem, weil die Geschwister nach dem Tod der Mutter und des Vaters im Januar 1973 weiterhin um Entschädigung kämpften. Gesprochen hat Hedwig Kersten offenbar nie über ihr Schicksal. Ihr 1946 geborener Sohn berichtete in einem Brief aus dem Oktober 1980 als Einziger: »Von der Sache meiner Mutter erfuhr ich erst 1975.«