Langer Weg zur Gerechtigkeit

Eine Doku mitsamt Gespräch über die letzten Gerichtsprozesse gegen das KZ-Lagerpersonal sorgte im Kinocenter für viel Andrang. Jetzt wird der Film noch zweimal ins Programm genommen.
Gießen. Die hochbetagte Roza Bloch sagte im Jahr 2020 als Zeugin aus, als Bruno D., SS-Wachmann im Konzentrationslager Stutthof, vor dem Landgericht Hamburg der Prozess gemacht wurde. Zur Tatzeit war der greise Angeklagte 17 Jahre alt, das den Holocaust überlebende jüdische Mädchen damals sogar noch etwas jünger. Warum also, fragte das Opfer des Nazi-Terrors, hat es so lange bis zu diesem Prozess gedauert?
Auf Suche nach einer Antwort macht sich die sehenswerte Filmdokumentation »Fritz Bauers Erbe - Gerechtigkeit verjährt nicht«, die am Montagabend in Anwesenheit von Regisseurin Isabel Gathof im Kinocenter Gießen gezeigt wurde. Ebenfalls eingeladen waren die beiden Juristen Prof. Bernhard Kretschmer (Uni Gießen) sowie Dr. Wolfgang Form (Uni Marburg), die auf Einladung des Gießener Vereins Criminalium im anschließenden Publikumsgespräch weitere Hintergründe beisteuerten. Das Thema traf offenbar einen Nerv: Der Saal war komplett ausverkauft, nicht alle Kartenwünsche konnten erfüllt werden. Daher wird der Film nun kurzfristig noch zweimal ins Programm des Kinocenters aufgenommen (siehe Kasten).
Die Doku von Gathof sowie ihren Kolleginnen Sabine Lamby und Cornelia Partmann blickt zunächst zurück in die 1960er Jahre. Die damals zögerlich begonnene juristische Aufarbeitung des millionenfachen Mords an Europas Juden stellte die Ermittler vor ein Dilemma: Wie sollte man die Täter aus Auschwitz und all den anderen Konzentrationslagern verurteilen, wenn ihnen nach geltendem Rechtsstaatsprinzip konkrete Taten nachgewiesen werden müssen? Es ist eine angesichts der industriell organisierten, arbeitsteiligen Menschenvernichtung kaum zu lösende Aufgabe. Daher forderte der Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (1903-1968) einen anderen Weg: Anstatt den Einzeltäternachweis zu suchen, sollte das Lagerpersonal als Rädchen einer großen Maschinerie betrachtet - und so vor Gericht zur Rechenschaft gezogen werden. Bauer brachte gegen viele Widerstände die 1963 begonnenen Frankfurter Auschwitz-Prozesse in Gang und sorgte damit dafür, dass die bis dahin weitgehend totgeschwiegenen Verbrechen erstmals vor einer breiten west-deutschen Öffentlichkeit verhandelt wurden. Das ist mittlerweile 60 Jahre her - aber die Prozess-Geschichte noch immer nicht zu Ende.
Denn was Bauer damals forderte, wurde von der Justiz lange Zeit nicht erfüllt, berichtete der Marburger Wolfgang Form. Immer wieder hätten sich Möglichkeiten aufgetan, eine andere Verfahrensweise zu wählen. Stattdessen wurde weiter nach dem Einzeltäternachweis geurteilt, so dass zahlreiche Angeklagte mangels Beweisen freigesprochen werden mussten.
Hinzu kam, das Helfer auf den Wachtürmen oder an anderer Stelle, an der sie nicht direkt an der Mordmaschinerie beteiligt waren, fast immer jede Schuld von sich wiesen. Schließlich hätten sie nur Befehle befolgt und keine Möglichkeit gehabt, sich ihren Aufgaben zu entziehen. So redeten sich am Ende nahezu alle heraus - und als Täter blieben demnach vermeintlich nur noch Hitler und ein paar seiner engsten Gefolgsleute übrig.
So wird gespiegelt, worum es bei dieser juristischen Aufarbeitung im Kern geht: um die Frage nach der moralischen Verantwortung des Einzelnen. Nicht nur die Justiz, die gesamte bundesrepublikanische Gesellschaft war lange Zeit nicht bereit, sich diesem Thema zu stellen. Der Film zeigt anschaulich, wie die gerichtliche Aufarbeitung der Verbrechen in den Lagern immer wieder stockte, wie Hinweisen nicht nachgegangen wurde, wie Ermittlungen ins Leere liefen. Ein entscheidender, wenngleich äußerst später Wendepunkt war dann der Prozess gegen den Ukrainer John Demjanjuk, der zum Hilfspersonal der SS in Auschwitz zählte. Er wurde 2011 als erster und bisher einziger nichtdeutscher NS-Befehlsempfänger vor Gericht gestellt und wegen Beihilfe zu Mord in mehr als 28060 Fällen zu fünf Jahren Haft verurteilt, weil er »Teil der Vernichtungsmaschinerie« gewesen sei. Genau die Begründung also, die Fritz Bauer bereits 50 Jahre zuvor eingefordert hat.
Seitdem sind noch einige Prozesse hinzugekommen, von denen die Doku zwei in den Blick nimmt. Und dabei zugleich beantwortet, warum diesen greisen Tätern am Ende ihres Lebens noch der Prozess gemacht werden sollte. Eine Münchner Historikerin bringt es im Film auf den Punkt: Es geht nicht um Strafe, es geht um die Urteile.«
Der SS-Wachmann aus Stutthof wurde 2020 zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt.
Dem Kinocenter Gießen ist es nach der ausverkauften Vorführung am Montagabend kurzfristig gelungen, zwei weitere Vorstellungen von »Fritz Bauers Erben« ins Programm zu nehmen. Sie finden am 18. Februar um 17 Uhr sowie am 22. Februar um 20 Uhr statt. Tickets gibt es im Vorverkauf über die Homepage: www.kinopolis.de/gi. Außerdem ist der Film am heutigen Mittwoch um 16.30 Uhr im Licher Kino Traumstern zu sehen. (bj)