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Leben unter ständiger Bedrohung

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Die chinesische Bedrohung ist allgegenwärtig - hier Militärhubschrauber mit Taiwan-Fahne vor den Feierlichkeiten des Nationalfeiertags in Taipeh. Stephan Thome (kleines Foto) berichtete vom Leben in seiner Wahlheimat. Fotos: dpa, Hahn-Grimm © dpa, Hahn-Grimm

Gießen. Was für ein Panorama! Ein Panorama von Menschen, Generationenfolgen und Landschaften im fernen Taiwan, ausgebreitet in einem Buch über 522 Seiten. Erfolgsautor Stephan Thome hat im vergangenen Jahr seinen jüngsten Roman »Pflaumenregen« vorgelegt, am Mittwochabend war er mit dem Werk zu Gast beim Literarischen Zentrum Gießen (LZG). Als passender Veranstaltungsort war der japanische Innenhof-Garten der Kongresshalle vorgesehen, wegen einer schwarzen Wolkenwand im Norden ging’s nach einem kleinen chinesischem Imbiss dann doch hinein in den Veranstaltungsraum des Kulturzentrums KiZ, wo LZG-Geschäftsführerin Hannah Brahm den prominenten Autor vorstellte.

»Man möchte fast an die taiwanischen Geister glauben, so leicht webt der aus Biedenkopf stammende Thome diese Geschichten ineinander«, lobt eine große deutsche Tageszeitung seinen Schreibstil. Just mit diesen Geistern begann er auch seine Lesung. Für ein europäisch-aufgeklärtes Publikum war es dabei gar nicht so einfach, den bis weit in die Vergangenheit zurückreichenden Spuren der Geister zu folgen. Die kleine Umeko, Hauptfigur des Romans, erzählt ihrer Freundin mit ungeheurer Lebhaftigkeit die furchterregende Geschichte vom toten Samurai. Das Mädchen plappert viel, ihre Eltern können sie oft kaum bremsen.

Die kluge und lebhafte Umeko wird die Leserschaft fortan bis zum Ende des Buches begleiten. Es ist das Jahr 2016, Umeko, die seit Einmarsch der Chinesen Hsiao Mei heißt, ist mittlerweile 82 Jahren alt und spricht kaum noch. Was ist in der Zwischenzeit geschehen? Mit drei Textpassagen gewährt Thome Einblick in seinen fünften Roman. Spannend formuliert, psychologisch einfühlsam, das Publikum war aufmerksam bei der Sache.

Wieder einmal jongliert der Autor gekonnt mit den Zeiten. Da schleicht sich auf einmal kaum merkbar die Vergangenheit ein und dann befinden wir uns plötzlich in einer Zukunft, die vorher kaum abzusehen war. Ein literarisches Verfahren, das schon aus seinem ersten Roman »Grenzgang« bekannt ist.

Stephan Thome, 1972 in Biedenkopf geboren, studierte Philosophie und Sinologie und lebte rund 15 Jahre auf Taiwan, in China und Japan. Nach seiner wissenschaftlichen Tätigkeit an verschiedenen Universitäten richtete er den Fokus verstärkt auf literarische Arbeiten. Seine Romane »Grenzgang« (2009), »Fliehkräfte« (2012) und »Gott der Barbaren« (2018) standen auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Mittlerweile lebt Thome in Taiwans Hauptstadt Taipeh und ist dort auch verheiratet.

»Pflaumenregen« behandelt, wie schon angeklungen, eine Familiengeschichte im 20. Jahrhundert. Der erste Teil spielt im Taiwan der 40er Jahre am Ende der japanischen Kolonialzeit. Die achtjährige Umeko lebt in einer Kleinstadt im Norden und ist stolz darauf, wie gut sie japanisch spricht. Sie verehrt ihren großen Bruder, der ihr nicht nur die Geistergeschichten erzählt, sondern auch der Star der lokalen Baseballmannschaft ist. Das ruhige Leben ändert sich jedoch dramatisch, als die Japaner am Ortsrand ein Lager für ausländische Kriegsgefangene bauen lassen. Der nächste große Einschnitt steht der Kleinstadt bevor, als die Japaner nach verlorenem Krieg abziehen und der chinesische Nationalist Chiang Kai-shek die Insel besetzt. Ein Strudel aus Schuld und Verbrechen ergreift die Familie und hält sie bis in die Gegenwart gefangen.

So kann das Werk als Liebeserklärung des Autors an seine Wahlheimat verstanden werden, das vor allem dem zähen Überlebenswillen der Inselbewohner Tribut zollt.

Dass in Taiwan viel Durchhaltevermögen erforderlich ist, um unter den verschiedenen Besetzern zu überleben, das schilderte Stephan Thome auf Nachfragen der Zuhörer. Und er machte klar, dass die Menschen jederzeit einen Überfall chinesischer Aggressoren befürchten.

Die historischen Fakten stellt der Autor bereits in einem kurzen Vorwort zu seinem Roman zusammen: »In den Jahren 1894/95 führten das chinesische und das japanische Kaiserreich einen Krieg, der die Kräfteverhältnisse in Ostasien von Grund auf neu ordnete. China verlor und musste seine Provinz Taiwan an den Sieger abtreten...« Mit der Zeit entstand auf Taiwan eine einheimische Mittelschicht, die sich kaum von ihren Kolonialherren unterschied. 1945 fiel Taiwan zurück an die chinesischen Nationalisten unter General Chiang Kai-shek, der einen grausamen Polizeistaat errichtete. Erst 1996 schließlich fanden freie Präsidentschaftswahlen statt.

Thome schreibt in seinem Vorwort: »Heute ist Taiwan eine ebenso lebendige wie gefährdete Demokratie, denn das Regime in Peking (…) strebt notfalls eine gewaltsame Vereinigung an. In Taiwan will das so gut wie niemand.«

In Gießen sorgte er für eine hochinteressante Lesung, bei der es wegen der brisanten Situation der Insel mehr um kulturhistorische und politische Fakten ging als um literarische Aspekte, die nur vereinzelt angesprochen wurden. Das Interesse an einer Lektüre des ergreifenden Buches war aber in jedem Fall geweckt, wie auch die anschließende Signierstunde bewies.

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gikult_2207_thome1a_0107_4c © Ursula Hahn-Grimm

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