Leichenteile auf dem »Mistplatz«

Die Brenner-Bücher, so viel sei diesem Text vorangeschickt, zählen zu den wunderbarsten Ermittler-Reihen der zeitgenössischen Krimiliteratur. Und das vor allem deshalb, weil sie mit dem Genre nicht wirklich etwas zu tun haben. Zur Erinnerung, nach acht Jahren Pause: Simon Brenner hat einst als Ausbilder bei der Wiener Polizei gearbeitet, bevor sein stetiger Abstieg ins Prekariat begann und er zunächst als Privatdetektiv, später als mittelschwer heruntergekommene Privatperson zumeist unfreiwillig in Sachen Mord und Totschlag unterwegs war.
Der Schriftsteller Wolf Haas hat sich diesen Mann mit gebrochener Persönlichkeit ausgedacht und seit 1996 in acht Büchern von ihm erzählt. Vor allem aber hat Haas dabei einen Erzählton entwickelt, der eine ganz spezielle, eine einzigartige Rhythmik entwickelt und ihm eine riesige Fangemeinde (sowie drei Deutsche Krimipreise) beschert hat. Man könnte sagen, Haas schreibt eine Art wohltönende literarische Musik - mit österreichischer Klang- und Sprachfärbung.
Nachdem seinen Lesern zwischenzeitlich schon Angst und Bange wurde, Brenner könne von bösartigen Kriminellen - und seinem Erfinder - prosaisch um die Ecke gebracht worden sein, dürfen sie nun aufatmen: Simon Brenner lebt. Und es geht ihm gar nicht so schlecht, wie sich gleich zu Beginn des neunten Romans der Reihe mit dem Titel »Müll« herausstellt. Denn er arbeitet mittlerweile als »Mistler« in einem Wiener Wertstoffhof, wo unterschiedliche Sorten Abfälle in großen Wannen voneinander getrennt werden. Dort finden die Männer zunächst ein menschliches Knie in einer der zahlreichen Behältnisse, dann zwischen Schutt und Elektroschrott weitere Einzelteile. Bei der Leiche handelt es sich um einen Millionär mit Geliebter, der offenbar von der Ehefrau in seine Einzelteile zerlegt und hier entsorgt wurde. Nur der Kopf des Mannes bleibt erst einmal verschwunden.
So beginnt der Plot, der wie stets bei Wolf Haas nur eine Art Träger für unterschiedlichste Themen, Motive und Geschichten ist, die er auf grandiose Weise zusammenführt. Denn wieder nutzt der 61-Jährige das aufzuklärende Verbrechen, um von unterschiedlichen Milieus, schillernden Charakteren und dem skurrilen menschlichen Miteinander zu erzählen. Dazu zählt natürlich die Arbeit auf dem Wertstoffhof, dem »Mistplatz«, wie er in Wien so schön heißt. Zur Sprache kommt auch das Phänomen Bettgeher, zu denen mittlerweile auch der abgebrannte Simon Brenner zählt. Dabei handelt es sich um Menschen, die in leerstehende Wohnungen von Urlaubern einziehen, um dort für kurze Zeit zu leben - ohne sichtbare Spuren zu hinterlassen. Vor allem aber breitet Wolf Haas diesmal das Thema Organspende aus. Denn in seiner Heimat gilt im Gegensatz zur in Deutschland geltenden Zustimmungsregel die sogenannte Widerspruchsregel, was bedeutet, dass jedem tödlich Verletzten ein Organ entnommen und verpflanzt werden kann, wenn er sich nicht explizit verweigert. Und genau das wird für den Fortgang dieses Buchs von entscheidender Bedeutung sein.
Am Wichtigsten ist in »Müll« aber wie stets in den Brenner-Romanen die Erzählstimme und -haltung. Eine undefinierte, allwissende Figur, die in entspanntem Ton vom Fortgang der Geschichte berichtet. »Ja, frag nicht«, »Aber interessant«, »Aber jetzt pass auf, was ich dir sage«: Das sind von Wolf Haas eingesetzte Versatzstücke, die er quasi zum Erkennungszeichen der Romane gemacht hat und die auch in »Müll« wieder ihren angestammten Platz finden. Es ist die vertraute Du-Perspektive, mit der hier über den Brenner, den Mordfall und die zahlreichen Wendungen berichtet wird und dem Buch seine besondere Klangfarbe verleiht.
»Mich interessiert nicht, wer der Täter ist«, sagte der 61-Jährige Schriftsteller jetzt anlässlich der Buchveröffentlichung in einem Interview des Wiener »Standard«. Und ganz richtig: Brenner-Romane liest man nicht deshalb, weil man wissen will, wer der Mörder ist. Umso schöner, dass es dem auch jenseits des Genres erfolgreichen Haas wie beiläufig gelingt, neben der sprachlichen Originalität und den motivischen Hakenschlägen quasi en passant auch noch einen spannenden Plot einzubauen, zu dem einmal mehr ein sich überschlagendes Finale gehört.
So wird »Müll« zu dem, was sich alle Brenner- und Haas-Fans von diesem neuen Fall erhofft haben: Ein literarischer, gewitzter, kluger, ungemein unterhaltsamer Roman, der voller überraschender Wendungen steckt. Für Krimi-Leser ist er natürlich auch geeignet.
Wolf Haas: Müll. 24 Euro. 288 Seiten. Hoffmann und Campe.
