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Literarische Loopings

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»Vorlesen ist nochmal was anderes«: Daniel Scholz im Who killed the pig. Foto: Schultz © Schultz

Eigentlich gibt es jedes Mal etwas Neues bei »Stories. Wein.Musik.« im Who killed the pig. Und auch diesmal hatte Veranstalter Christoph Jilo wieder einige literarische Schmankerl herausgesucht.

Gießen Eigentlich gibt es jedes Mal etwas Neues bei »Stories. Wein.Musik.« im Who killed the pig. Und auch diesmal hatte Veranstalter Christoph Jilo zum einen wieder einige literarische Schmankerl herausgesucht und sich zum anderen einen in der Reihe bewährten Sprecher nach Gießen geholt. Daniel Scholz las die Geschichten vor und verzauberte die Zuhörer ein ums andere Mal. Wie üblich war das Haus ausverkauft.

Für Musik sorgten Posaunist Andreas Jamin und Christian Schiller an der Gitarre. Sie boten schon zur Einstimmung Jazzimprovisationen von größtem Einfühlungsvermögen, ein wohltuender musikalischer Pfad, den sie fortan nicht mehr verließen.

Wolfgang Herrndorf (1965-2013), der erste an diesem Abend vorgestellte Autor, führte bis zu seinem frühen Tod ein erfolgreiches Leben als Autor, Maler und Illustrator. Sein bekanntestes Werk ist der Jugendroman »Tschick«. Scholz widmete sich jedoch Geschichten aus dem Werk »Stimmen«, unter anderem mit Erinnerungen an das Liebesleben eines Pennälers, virtuos auf die Pointe gebracht und teils souverän abgeschlossen. Hauptaspekt ist der ständige Wechsel der Geliebten. »In der Pubertät wurde dann alles anders«, und der vorgestellte junge Mann leidet vor allem unter der Bevormundung durch die Mutter, die ihn leider »immer mit Trotteln« zusammenbringt.

Die Liebe erlebt er als eine Art Entmächtigung: »In eine war ich so verliebt, dass ich nie mit ihr sprach, nur mit ihren Freundinnen.« Die heiter wirkenden Schilderungen der Seelennot macht die jugendlichen Qualen unmittelbar nachvollziehbar. Zudem formuliert Herrndorf mit unwiderstehlichem Witz, den Daniel Scholz sichtlich vergnügt ins Publikum überleitete. In kurzformartiger Weise gelangt man in die DDR, und auch bei der Schilderung des Grenzübertritts erweist sich Herrndorf als Autor, der in jeder Situation absurden Humor entdeckt; das Publikum war hingerissen.

Die New Yorkerin Paula Fox (1923-2017) lieferte den nächsten Text: »Mit sich allein«. In der atmosphärisch aufgeladenen Geschichte erhalten zwei Eheleute einen Brief, es gibt ein paar Begegnungen und zum Schluss wirft der Gatte einen Schneeball auf jemanden vor dem Haus; »Szenen einer Ehe«, ohne großen Kontext. Scholz vermittelte die merkwürdige Tonart der Geschichte allerdings sehr greifbar und das Publikum lauschte still - packend ist es schon.

Weiter ging es mit Benedict Wells’ (geboren 1984) Kurzgeschichte »Entstehung der Angst«, eine finstere Schilderung väterlicher Brutalität und der Entwicklung einer Beziehung zwischen zwei Brüdern, die sich schließlich dagegen wehren. Der Jüngere wird jedoch weiter von Dämonen heimgesucht: Es ist eine fesselnde Horrorwelt, in der die Gewalt gegen die Kinder lebenslang weiterwirkt.

Paula Fox schilderte in »Am Meer« eine herzerfrischend verrückte Szene, in der Kinder Zeugen »einer offenkundigen Bindung zwischen einem Huhn und einem Menschen« werden, obgleich das Tier zum Schrecken der Kinder später geschlachtet wird. Schließlich wird der Vater zur Bestie: Versiert komponierte alptraumhafte Elemente lassen eine fesselnde Atmosphäre entstehen.

»Es macht auch beim Lesen Spaß, aber Vorlesen ist nochmal was anderes«, sagte Veranstalter Christoph Jilo am Rande. Dieses Mal hatte das Programm etwas von einer emotionalen Achterbahnfahrt, bei der Daniel Scholz dafür sorgte, dass man jede Kurve und jeden Looping deutlich mitbekam: Exzellent.

Die Reihe wird fortgesetzt mit Kapitel 14: »Wein, Bier, Drinks & Limonade« am 26. September. Eine frühe Kartenreservierung wird empfohlen.

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